Flickr/Blogtrepreneur
Die Ärztin Erika Preisig muss sich vor dem Gericht verantworten. Ihr wird vorsätzliche Tötung vorgeworfen, weil sie eine Freitodbegleitung vornahm ohne gutachterlich festzustellen, ob die Person urteilsfähig war.
Es geht um die Frage, wie die Sterbehilfe in der Schweiz geregelt ist im Zusammenhang mit der Urteilsfähigkeit und was die Beweggründe für die Anklage der Staatsanwaltschaft sein könnten.
Der medizinische Eingriff
Die letzte Phase im Leben ist sowohl für den Patienten als auch für die Angehörigen zweifelsohne eine sehr belastende Zeit. Der Umgang mit dem Tod ist und wird immer eine schwierige Herausforderung bleiben.
Perplex und wie zu Eis erstarrt hört man der Hiobsbotschaft der Ärztin zu. Vor allem wenn es sich um eine unheilbare Krankheit handelt dessen unausweichliches Ende bei allen Beteiligten eine klaffende Wunde zu hinterlassen vermag.
Umso wichtiger ist es, in dieser Phase die Wünsche des Patienten zu erfahren, wobei oft schwierige Fragen gestellt werden müssen. Soll die Medikation der Schmerztherapie erhöht werden, um die Schmerzen zu lindern unter Inkaufnahme einer Verkürzung des Lebens? Sollen die lebenserhaltenden Massnahmen eingestellt werden? Kommt eventuell eine Sterbehilfe in Frage?
Es gilt zu klären, wann ein Eingriff grundsätzlich durchgeführt werden darf und, im Falle der (legalen) Sterbehilfe, wann und ob überhaupt die lebenserhaltenden Massnahmen abgebrochen oder der Patient in den Freitod begleitet werden darf.
Das Recht auf Selbstbestimmung
Zunächst ist festzuhalten, dass jeder Eingriff in die physische Integrität einen rechtswidrigen Eingriff darstellt. Sie wird grundrechtlich in Art. 10 BV geschützt (Recht auf Leben und persönliche Freiheit). Daneben gibt es vielzählige Normen die ebenfalls einen Schutz bieten (so z.B. der Schutz der Persönlichkeit im Sinne von Art. 28 ZGB oder durch die Körperverletzungs- und Tötungsdelikte gemäss Art. 111ff StGB). Der Rechtsgrundsatz «volenti non fit iniura» gilt auch für das Medizinrecht und besagt, dass dem Einwilligenden kein Unrecht geschieht: Die Rechtswidrigkeit eines Eingriffs wird durch die Einwilligung geheilt. Jedoch muss folgerichtig der rechtsgenügenden Einwilligung zunächst, unabhängig vom verfolgten Zweck, immer eine umfassende, auf den Patienten abgestimmte Aufklärung vorausgegangen sein. Die Information durch den Arzt stellt das Fundament der freien Willensbildung dar und ist unabdingbar, denn nur so kann der rechtlich geschützte Anspruch auf Selbstbestimmung gewahrt werden.
Urteilsfähigkeit
Damit der Patient in einen Eingriff einwilligen kann, muss er urteilsfähig sein. Die Urteilsfähigkeit wird in Art. 16 ZGB geregelt: Demnach ist jede Person urteilsfähig, dem wegen seines Kindesalters, infolge geistiger Behinderung, psychischer Störung, Rausch oder ähnlichen Zuständen nicht die Fähigkeit mangelt, vernunftgemäss zu handeln. Die Urteilsfähigkeit ist (sowohl in sachlicher als auch in zeitlicher Hinsicht) relativ und muss in jedem Einzelfall gesondert geprüft werden. Das Alter spielt dabei grundsätzlich keine Rolle; vielmehr muss auf die individuellen Fähigkeiten des Patienten abgestellt werden. Fraglich ist, ob diese Person in der Lage ist, alle Auswirkungen der Behandlung (oder Nichtbehandlung) zu erfassen und ob sie es vermag, sich gemäss ihrem eigens gebildeten Willen, auch gegen äusseren Druck, zu verhalten.
Behandlung im Falle der Urteilsunfähigkeit
Die Frage nach dem (mutmasslichen) Willen des Patienten stellt sich immer dann, wenn der Patient seinen Willen nicht (mehr) selbst kundtun kann. Ein solcher Fall der Urteilsunfähigkeit tritt meist ein aufgrund einer fortschreitenden Krankheit oder wegen eines Unfalls, kann aber auch aufgrund anderer Gründe vorliegen (vgl. die beispielhafte Aufzählung von Art. 16 ZGB)
Das Selbstbestimmungsrecht des Patienten hat stets Vorrang. Kann er sich (aufgrund des urteilsfähigen Zustandes) zu der Behandlung äussern, so muss seinem Wunsch entsprochen werden. Ist dies nicht der Fall und liegt auch keine Patientenverfügung vor, müssen die vertretungsberechtigten Personen entscheiden. Die Reihenfolge der vertretungsberechtigten Personen richtet sich nach der Kaskadenordnung von Art. 378 Abs. 1 Ziff. 1–7 ZGB:
- Ziff. 1: die in der Patientenverfügung bezeichneten Personen;
- Ziff. 2: der Beistand oder die Beiständin mit einem Vertretungsrecht bei medizinischen Massnahmen;
- Ziff. 3: der Ehegatte/eingetragener Partner, der mit der urteilsunfähigen Person einen gemeinsamen Haushalt führt oder ihr regelmässig und persönlich Beistand leistet;
- Ziff. 4: die Person, die mit der urteilsunfähigen Person einen gemeinsamen Haushalt führt und ihr regelmässig Beistand leistet;
- Ziff. 5: die Nachkommen, wenn sie der urteilsunfähigen Person regelmässig persönlichen Beistand leisten;
- Ziff. 6: die Eltern, wenn sie der urteilsunfähigen Person regelmässig persönlichen Beistand leisten;
- Ziff. 7: die Geschwister, wenn sie der urteilsunfähigen Person regelmässig persönlichen Beistand leisten;
Ziel der Reihenfolge ist es, die Entscheidung derjenigen Person zuzusprechen, die die engste Beziehung zur urteilsunfähigen Person aufweist. Sind mehrere Personen vertretungsberechtigt, so kann der Arzt davon ausgehen, dass die Person im Einverständnis mit den anderen handelt (Beispielsweise wenn nur ein Nachkomme sich äussert). Bei Unklarheiten oder wenn keine Einigung erzielt werden kann muss die Erwachsenenschutzbehörde eingeschaltet werden, die über die Vertretungsberechtigung entscheidet.
Die vertretungsberechtigte Person muss ihre Entscheidungen stets gemäss dem mutmasslichen Willen des Patienten und nach seinen Interessen ausrichten. Beim mutmasslichen Willen wird die Frage gestellt, wie der Patient entschieden hätte, wenn er selbst entscheiden könnte. Hilfreiche Indizien könnten vergangene Äusserungen oder Handlungen sein. Deshalb ist es wichtig, dass die Person mit der engsten Beziehung entscheidet, weil diese (vermutungsweise) die Wünsche des Patienten am besten kennt.
Die Interessen des Patienten sind aus objektiver Sicht zu beurteilen. In seinem Interesse liegen medizinisch indizierte Eingriffe, wobei der Begriff (sehr) weit verstanden wird. Es kann nur dann nicht in eine Behandlung eingewilligt werden, wenn diese überhaupt keinen Sinn macht (oder es sich um eine vertretungsfeindliche Handlung handelt).
Sterbehilfe
Von Sterbehilfe kann nur gesprochen werden, wenn der Sterbeprozess entweder bereits begonnen hat oder der Prozess kurz bevorsteht. Es ist stets eine Drittperson beteiligt. Unterschieden wird die direkte, indirekte oder passive Sterbehilfe.
Bei der direkten Sterbehilfe wird der Tod des Patienten durch eine Handlung der Drittperson herbeigeführt. Je nach Motivation könnte es sich dabei um eine vorsätzliche Tötung (StGB 111), den Totschlag (StGB 113) oder die Tötung auf Verlangen (StGB 114) handeln. Die (schuldhafte) direkte Sterbehilfe ist demnach immer rechtswidrig und hat strafrechtliche Konsequenzen, da der Patient nicht in seine eigene Tötung einwilligen kann.
Eine indirekte Sterbehilfe wird geleistet, wenn der Arzt bspw. die Dosierung von Medikamenten erhöht um das Leiden des Patienten zu lindern und dabei in Kauf nimmt, dass sich die Lebenszeit verkürzen könnte. Die indirekte Sterbehilfe ist gesetzlich nicht geregelt, wird aber in der Praxis erlaubt, sofern sich die Dosierung im Rahmen hält und keine bösen Absichten verfolgt werden. (Deswegen ergeben sich zum Teil schwierige Abgrenzungsfragen)
Eine passive Sterbehilfe liegt vor, wenn der Arzt es unterlässt, lebenserhaltende Massnahmen einzuleiten. Der Sterbeprozess nimmt dadurch seinen natürlichen Lauf. Auch hierfür fehlt eine gesetzliche Regelung. Strafbar wäre es, wenn der Arzt in der Lage gewesen wäre, den Sterbeprozess durch eine Behandlung aufzuhalten, es aber unterlässt. Dies ist nicht der Fall bei aussichtslosen Massnahmen oder bei Massnahmen, die die Lebenszeit nur unwesentlich hinauszögern. Nur im ersten Fall liegt eine Strafbare Handlung durch Unterlassen vor.
Streng von der Sterbehilfe abzugrenzen ist die Suizidbeihilfe. Ein Suizid liegt vor, wenn der Patient aus freiem Willen den Tod wählt und hierfür eine Handlung vornimmt. Eine Beihilfe kann auf verschiedene Arten geleistet werden, beispielsweise durch das Anbieten/Vorbereiten eines tödlich wirkenden Medikamentes. Die Beihilfe ist dann strafbar, wenn sie aus selbstsüchtigen Gründen erfolgt (StGB 115). Die gewerbsmässige Beihilfe wird in der Schweiz nicht als strafbar angesehen.
Wichtig bei der (legalen) Suizidbeihilfe ist, dass die Handlung, die zum Tode führt, vom Patienten selbst vorgenommen werden muss. Demnach ist die Freitodbegleitung einer gelähmten Person nicht möglich.
Der Fall Erika Preisig
Wie vorhin aufgeführt bedarf eine Behandlung eine rechtsgenügende Einwilligung. Damit jemand überhaupt einwilligen kann, muss er urteilsfähig sein. Diese bemisst sich nach der intellektuellen und voluntativen Komponente. Liegt eine psychische Störung vor, so muss die Urteilsfähigkeit durch Spezialisten abgeklärt werden. In diesem Fall verweigerten die Spezialisten ihr jedoch die Zusammenarbeit.
Das bedeutet (vermutungsweise) im Ergebnis, dass die Frau Preisig den Tod eines Patienten in mittelbarer Täterschaft herbeigeführt hat, ohne (rechtsgenügend) zu wissen, ob die Patientin überhaupt urteilsfähig war oder nicht.
Diese Tatsache begründet die von der Staatsanwalt verlangte Verurteilung wegen vorsätzlicher Tötung, denn eine urteilsunfähige Person kann nicht in ihren eigenen Tod einwilligen.
Fazit
Die Sterbehilfe wird in der Schweiz sehr liberal geregelt. Es liegt ein gesellschaftlicher Konsens vor: Die Sterbehilfe soll auch weiterhin möglich sein. Als Ausdruck des Selbstbestimmungsrechts ist dies meines Erachtens auch zu begrüssen. Eine urteilsfähige Person, die beispielsweise an einer unheilbaren Krankheit leidet, soll als ultima ratio das Recht auf den assistierten Suizid haben.
Jedoch muss uns bewusst sein, dass wir das freiwillige Sterben erlauben. Eine solch gravierende Entscheidung muss gut überlegt sein weshalb die Vorschriften auch restriktiv auszulegen sind. Dass einer Person, die nicht Imstande ist, die Tragweite seiner Entscheidungen in vollem Umfang zu verstehen, mithin urteilsunfähig ist, die Freitodbegleitung verwehrt bleiben soll, ist aufgrund der Schwere der Entscheidung eine unausweichliche Notwendigkeit. Können wir den Tod eines Menschen, deren Urteilsfähigkeit wir nicht mit Gewissheit bejahen können, verantworten, und wer soll die Urteilsfähigkeit beurteilen, wenn nicht ein Spezialist? Bei einer psychisch kranken Person muss die Frage durch einen Spezialisten beantwortet werden, da andernfalls der Willkür Tür und Tor geöffnet wird.
Es genügt nicht, wenn eine Ärztin die Notwendigkeit eines Psychiaters verneint (vor Gericht stellt sich Frau Preisig auf den Standpunkt, dass es bei einer reaktiven Depression infolge schwerer körperlicher Leiden keinen Psychiater bedürfe), zumal sie nicht über die notwendigen Qualifikationen verfügt. Professor Marc Graf, Direktor der Klinik für Forensik an den Universitären Psychiatrischen Kliniken Basel und Gutachter der Anklage sieht bei schweren Depressionen grundsätzlich die Urteilsfähigkeit getrübt, auch wenn diese von körperlichen Leiden ausgelöst werden.
Ohne eine Vorverurteilung vorzunehmen ist meine Meinung, dass es aus moralischer Sicht nicht zu rechtfertigen ist, einer Person den assistierten Suizid zu gewähren bei dem nicht sicher ist ob er die Sachlage korrekt zu verstehen und alle Faktoren in die Erwägung miteinzubeziehen vermag.
Die Rechtsprechung ist in dieser Hinsicht eindeutig und ein Abweichen davon ist ein bewusstes Abweichen von der gängigen Praxis, die der Ärztin vorzuwerfen ist.
