Arbeitsmarktzulassung von ausländischen Personen und die Begrenzungsinitiative

Source: Staatssekretariat für Bildung,Forschung und Innovation SBFI

Im Mai entscheidet das Volk über die Volksinitiative «Für eine massvolle Zuwanderung (Begrenzungs-Initiative)». Die SVP hat es nicht leicht, die Gegner befinden sich sogar in den eigenen Reihen. Doch wie ist die Personenfreizügigkeit derzeit geregelt, welche Rechte und Pflichten werden durch das Abkommen auferlegt und was soll die Begrenzungsinitiative ändern?

Im Ergebnis ist die Begrenzungsinitiative abzulehnen: Jedem sollte es bewusst sein, dass Wohlstand und Prosperität seinen Preis hat. Die Vorteile der Abkommen überwiegen deutlich die Nachteile. Am Schluss des Artikels sind für die Kosten-Nutzen-Analyse noch verschiedene Studien und deren Ergebnisse aufgeführt.

Schlussfolgerung der Konjunktorforschungsstelle der ETH Zürich:

„Als abschliessende Einschätzung möchten wir hinzufügen, dass es nicht eines empirischen Nachweises für eine Erhöhung der Schweizer BIP-Potenzialwachstumsrate bedarf, um die Personenfreizügigkeit zu begrüssen. Die Wirtschaftstheorie zeigt, dass Migration und Arbeitsteilung gemäss komparativer Vorteile komplementär sind.“

Freizügigkeitsabkommen; Bilaterale I

Nach dem EWR-Nein im Jahre 1992 war der Bundesrat bemüht, den Schweizer Unternehmen einen diskriminierungsfreien Zugang zum wichtigsten Markt zu ermöglichen (EU-Binnenmarkt mit über 507 Mio. potenziellen Konsumenten). Die EU erklärte sich in 7 Bereichen des Wirtschaftssektors verhandlungsbereit, stellte aber die Bedingung auf, dass alle der Abkommen unterzeichnet und in Kraft treten müssten, da sie nur als Gesamtheit im Interesse der Vertragspartner wären. Dadurch entstand die sogenannte «Guillotine-Klausel», die so oft von den Politikern und Medienschaffenden erwähnt wird. Alle Abkommen, die klassische Marktöffnungsabkommen darstellen, werden unter den «Bilaterale I» zusammengefasst. Die Klausel besagt, dass die Kündigung eines Abkommens dazu führt, dass das gesamte Paket dahinfällt. So heisst es in Art. 25 Abs. 4 FZA, dass eine Nichtverlängerung eines Abkommens zur Ausserkraftsetzung aller Abkommen führt. Namentlich handelt es sich dabei um Folgende:

Abkommen über die Freizügigkeit,
– Abkommen über den Luftverkehr,
– Abkommen über den Güter- und Personenverkehr auf Schiene und Strasse,
– Abkommen über den Handel mit landwirtschaftlichen Erzeugnissen,
– Abkommen über die gegenseitige Anerkennung von Konformitätsbewertungen,
– Abkommen über bestimmte Aspekte des öffentlichen Beschaffungswesens,
– Abkommen über die wissenschaftliche und technologische Zusammenarbeit.

Arbeitsmarktzulassung von EU/EFTA-Angehörige

Die Personenfreizügigkeit wird im Freizügigkeitsabkommen (FZA) als Bestandteil der Bilaterale I zwischen den Mitgliedern der Europäischen Gemeinschaft und der Schweiz geregelt. Dieselbe Regelungen gelten auch für Staatsangehörige der Europäischen Freihandelsassoziation (EFTA). Beide Abkommen traten am 1. Juni 2002 in Kraft. Durch das Abkommen werden allen Staatsangehörigen der Vertragsparteien das Recht eingeräumt, ihren Arbeitsplatz bzw. Aufenthaltsort innerhalb der Staatsgebiete der Vertragsparteien frei zu wählen. Vertragsstaaten sind (Auf die Spezialregelung für Kroatien wird nicht eingegangen):

EU-Staaten: Belgien, Bulgarien, Dänemark, Deutschland, Estland, Finnland, Frankreich, Griechenland, Irland, Italien, Lettland, Litauen, Luxemburg, Malta, Niederlande, Österreich, Polen, Portugal, Republik Tschechien, Rumänien, Schweden, Slowakei, Slowenien, Spanien, Ungarn, Vereinigtes Königreich und Zypern.

 EFTA-Staaten: Island, Liechtenstein, Norwegen, Schweiz

Schlüsselprinzip des Abkommens ist die Nichtdiskriminierung gemäss Art. 2 FZA: Wer sich rechtmässig im Hoheitsgebiet eines Vertragsstaates aufhält, darf bei der Anwendung des Abkommen nicht aufgrund seiner Staatsangehörigkeit diskriminiert werden. Dem Arbeitnehmer wird gemäss Art. 2 Abs. 1 Anhang I FZA bei Aufenthalt und Erwerbstätigkeit automatisch eine Aufenthaltserlaubnis ausgestellt. Dabei werden 3 Kategorien von Bewilligungen unterschieden, die vom Dauer des Arbeitsverhältnisses abhängen:

– Keine Aufenthaltsbewilligung bei einer Dauer unter 3 Monaten (Art. 6 Abs. 2 Anhang I FZA)
– Ausweis L EG/EFTA bei einer Dauer zwischen 3 Monaten und 1 Jahr (Art. 6 Abs. 2 Anhang I FZA)
– Ausweis B EG/EFTA bei einer Dauer von über 1 Jahr (Art. 6 Abs. 1 Anhang I FZA)

Staatsangehörige der Vertragsparteien dürfen gemäss Art. 2 Abs. 1 Anhang I FZA dabei zwecks Stellensuche sich für bis zu 6 Monaten im Hoheitsgebiet der Vertragsstaaten befinden. Für Grenzgänger, die mindestens einmal wöchentlich an ihren Wohnort ausserhalb der Schweiz zurückkehren, wird eine Sonderbescheinigung nach Massgabe von Art. 7 Abs. 2 FZA ausgestellt. Zusätzlich wird im Abkommen die gegenseitige Anerkennung von Berufsqualifikationen (Art. 9 FZA) und der Familiennachzug (Art. 7 lit. d FZA) geregelt, wobei anzumerken ist, dass die Staatsbürgerschaft des Nachzuziehenden irrelevant ist.

Arbeitnehmer, die länger als 3 Monate in der Schweiz arbeiten möchten, müssen ihre Ankunft gemäss Art. 26 VEP bei der vorgesehenen Wohngemeinde melden und die notwendigen Schritte zur Erlangung des entsprechenden Aufenthaltstitels unternehmen.

Wie eingangs erwähnt, ist das Schlüsselprinzip des FZA die Nichtdiskriminierung. Der Bundesrat war bemüht, die Masseneinwanderungsinitiative abkommenskonform umzusetzen. Die Ergänzung des FZA durch den Masseneinwanderungsartikel müsste neu verhandelt werden. Die Beschränkung der Einwanderung durch Höchstzahlen hätte im schlimmsten Fall, unter Anderem wegen dem Verstoss gegen das Diskriminierungsverbot, zur Kündigung des FZA geführt. Aufgrund der «Guillotine-Klausel» wäre die nächste Folge das Dahinfallen aller Abkommen. In Anbetracht dieser Tatsache hat der Bundesrat zwecks Umsetzung der Initiative auf Verordnungsebene eine Stellenmeldepflicht für Berufsgruppen, deren Arbeitslosenquote einen bestimmten Schwellenwert erreichen (Stand 1. Januar 2020: 5%), eingeführt. Unternehmen müssen die vakante Stelle dem RAV melden und Inländern den Vorrang gewähren. Das RAV übergibt dem Arbeitgeber auf die Stelle passende Dossiers von Arbeitnehmenden (sogenannter «Inländervorrang light»). Erst nach erfolgloser Suche kann das Stelleninserat veröffentlicht werden (5 Tage Vorsprung für Inländer). Die Liste der Meldepflichtigen Berufe werden auf www.arbeit.swiss veröffentlicht.

Arbeitsmarktzulassung von drittstaat-Angehörigen

Die Zulassung von ausländischen Arbeitskräften wird für die EU-/EFTA-Angehörigen im Freizügigkeitsabkommen (siehe oben) und die von Drittstaaten im Ausländer- und Integrationsgesetz (AIG) und in der Verordnung über Zulassung, Aufenthalt und Erwerbstätigkeit (VZAE) geregelt.

Zunächst muss der Arbeitgeber die Gesuchsunterlagen bei der kantonalen Arbeitsmarkt- oder Migrationsbehörde einreichen. Für Arbeitnehmende, die der Visumpflicht unterstehen, muss zusätzlich ein entsprechendes Einreisegesuch bei der zuständigen schweizerischen Auslandvertretung eingereicht werden. Die zuständige kantonale Behörde prüft, ob die Voraussetzungen des AIG erfüllt sind und überreicht den Vorentscheid dem Staatssekretariat für Migration, der eine weitere Prüfung nach gesamtschweizerischen Zulassungskriterien vornimmt. Stimmt das SEM dem Antrag ebenfalls zu, stellt das kantonale Migrationsamt eine Visumsermächtigung an die Schweizer Vertretung im Ausland aus; der Arbeitnehmer kann daraufhin das Visum abholen.

Zulassungsvoraussetzungen

Die Kriterien gemäss AIG sind in Art. 18ff. geregelt. Art. 18 sieht vor, dass eine Zulassung nur erfolgen kann, wenn «[…] insbesondere die jeweilige Arbeitsmarktsituation, die nachhaltige Wirtschaftsentwicklung und die Integrationsfähigkeit der Ausländerinnen und Ausländer [vorliegt].». Die Begründungspflicht obliegt dem Gesuchsteller (Arbeitgeber). Gemäss Art. 20 AIG werden in der VZAE Höchstzahlen festgelegt, die stets angepasst werden; ein Diskriminierungsverbot gilt nicht bei drittstaat-Angehörigen.

Des Weiteren muss der Arbeitgeber gemäss Art. 21 AIG «[…] den Nachweis […] erbringen, dass trotz umfassender Suchbemühungen keine geeigneten Arbeitskräfte mit Vorrang (Inländer) rekrutiert werden [konnten]…» Die Stellenmeldepflicht für den Inländervorrang (siehe oben) gemäss FZA gelten aufgrund Art. 21a AIG analog.

Auch müssen die persönlichen Voraussetzungen gemäss Art. 23 AIG und eine bedarfsgerechte Wohnung gemäss Art. 24 AIG vorliegen. In gewissen Fällen kann nach Art. 30 AIG von den Zulassungsvoraussetzungen abgewichen werden.

Begrenzungsinitative

Die Umsetzung der Masseneinwanderungsinitative erfolgte durch einen «Inländervorrang light». Obwohl ich persönlich selbst nichts von der Initiative halte, wurde sie angenommen und hätte pflichtgemäss umgesetzt werden sollen. Dem Volk war bei der Abstimmung bewusst, dass eine wortgetreue Umsetzung zu einer Verletzung des Abkommens und folglich wegen der «Guillotine-Klausel» zur Kündigung der Bilateralen I führen könnte. Trotzdem wurde sie angenommen, und durch diese Scheinlösung wurde meines Erachtens das Volk hintergangen. Eine Verletzung der Personenfreizügigkeit konnte durch diese Lösung minimiert werden weshalb auch die «Rasa-Initiative», die eine Streichung des Masseneinwanderungs-Artikels verlangte, zurückgezogen wurde. Das Hauptproblem, welcher Weg eingeschlagen werden sollte, wurde jedoch ignoriert.

Die Begrenzungsinitative will dieses Fiasko dadurch lösen, dass der Rechtsanspruch auf Personenfreizügigkeit endgültig beendet wird. Im Kern geht es darum, den (bereits zugestimmten) Zuwanderungsartikel umzusetzen und dadurch die Zuwanderung einzuschränken, unter Inkaufnahme einer eventuellen Kündigung der Abkommen und folglich der Bilaterale I. Sie nimmt diese Option explizit in Kauf. Unabhängig davon, für welche Seite gestimmt wird, ist die Initiative begrüssenswert: Der derzeitige «Schwebezustand» und die «Orientierungslosigkeit» ist für alle Beteiligten ein Dorn im Auge , weshalb es einer klaren Regelung braucht. Mit dieser Initiative wird das Problem der Umsetzung ein für alle Mal geklärt: Entweder wird sie angenommen, womit das Abkommen neu verhandelt (sehr unwahrscheinlich) und eventuell die Bilateralen I gekündigt wird, oder sie wird abgelehnt, womit klar ist, dass an den Abkommen nicht (mehr) gerüttelt wird.

Verschiedene Positionen

Alle Parteien, mit Ausnahme der SVP und ein paar Unentschlossenen, lehnen die Initiative ab. Auch grosse Verbände lehnen Sie aus unterschiedlichen Gründen ab. Im Grunde werden die gleichen Argumente wie bei der Masseneinwanderungsinitiative vorgebracht, weshalb nur auf die Wichtigsten eingegangen wird.

swissuniversities

Swissuniversities lehnt die Initiative ab, weil dadurch auch das Forschungsabkommen dahinfällt. Die Annahme der Initiative würde dazu führen, dass die Schweizer Hochschulen als Arbeitgeber an Attraktivität verliert und die Mobilität von Studierenden und des akademischen Personals eingeschränkt wird.

economiesuisse

Im Jahr 2018 betrug der Anteil des Aussenhandels am Schweizer Bruttoinlandprodukte 95,3%. 51,6% der aus der Schweizer exportierten Waren und Dienstleistungen gehen in EU-Staaten.

Warenaussenhandel
Quelle: Eidgenössisches Depertaement für auswärtige Angelegenheiten, EDA; Datensatz: EZV, Swiss-Impex

Die Personenfreizügigkeit ermöglicht den Zugang zum europäischen Binnenmarkt und wirkt dem Problem des Fachkräftemangels entgegen. Dass die Schweiz einen sehr grossen Nutzen hat durch das Abkommen, kann statistisch belegt werden. Auch ist zu erwähnen, dass die Einwanderung seit den letzten Jahren abnimmt.

Wanderungssaldo
Quelle: Bundesamt für Statistik, BFS

Das Argumentarium der SVP überzeugt nicht. Es wird erwähnt, dass negative Auswirkungen auf die Versorgungs- und Verkehrsinfrastruktur, auf den Energieverbrauch, den Immobilienmarkt, der Umwelt, den Arbeitsmarkt und auf die Sozialwerke zu befürchten sei. Es ist jedem bewusst, dass die Zuwanderung Probleme mit sich bringt. Im Endergebnis müssen die Nachteile mit den Vorteilen abgewogen werden. Meines Erachtens ist es selbstverständlich, dass auch «Probleme» importiert werden. Zweifelsohne nehme aber ich diese Nachteile in Kauf. Auf diverse Missstände kann innerstaatlich reagiert werden, bspw. der Lohnschutz durch die «flankierenden Massnahmen». An diesen Massnahmen, die sich bewährt haben, ist festzuhalten und weiter auszubauen.

Verschiedene Studien

Wer eine fundierte Meinung bilden will, ist gezwungen, sich mit der Nutzen-Kosten-Analyse der Bilaterale I ausseinanderzusetzen. Lesenswert sind folgende Studien:

economiesuisse, Entwicklung des BIP pro Kopf, Das Wachstum der Schweiz ist besser als sein Ruf, 2016, S. 21.

„In der öffentlichen Diskussion werden hin und wieder Zweifel geäussert, ob und wie die Schweizer Bevölkerung in den letzten zehn bis 15 Jahren vom Wirtschaftswachstum profitieren konnte. Die Zahlen des BFS zeigen, dass das BIP pro Kopf in der Schweiz zwischen 2002 und 2014 real um 13 Prozent gestiegen ist. Aber man beobachtet auch, dass sich dieses Wachstum seit 2008 merklich abgeschwächt hat. Damit stellt sich die politisch brisante Frage: Sind die bilateralen Verträge für das Pro-Kopf-Einkommen der Schweizer Bevölkerung überhaupt von Bedeutung?

Für die Beantwortung dieser Frage gilt es zu berücksichtigen, dass sich die Welt erst allmählich von der grössten Wirtschaftskrise seit dem Erdölschock von 1972 erholt. Ende 2008 brachen die Märkte im Zuge der Finanzmarktkrise ein, es folgte ein massiver Rückgang des Wachstums in den entwickelten Ländern. Gerade in Europa – dem mit Abstand wichtigsten Schweizer Handelspartner – dauert diese Krise bis heute an. Die Verschuldungsproblematik ist noch nicht gelöst. Zusätzlich bewirken die umfangreichen Interventionen der Europäischen Zentralbank (EZB) eine weitere Stärkung des Schweizer Frankens. Wenn nun das nicht berauschende Wachstum des Schweizer Pro-Kopf-Einkommens während der letzten Jahre kritisch hinterfragt wird, dann müssen auch derartige Effekte in die Analyse einfliessen.

Die vorliegende Publikation verwendet ein ökonometrisches Modell, um die Entwicklung des BIP pro Kopf in der Schweiz von solchen Verzerrungen zu isolieren und die einzelnen Einflussfaktoren aufzuschlüsseln. Während der Untersuchung zeigte sich, dass die Modellergebnisse robust sind und nicht von der gewählten Modellvariante abhängen. Die Ergebnisse der Analyse lassen drei Schlüsse zu: Erstens ist das mässige Wachstum des Schweizer Pro-Kopf-Einkommens der letzten Jahre vor allem auf die schwache konjunkturelle Entwicklung in Europa zurückzuführen. Zweitens hat sich das Pro-Kopf-Wachstum der Schweiz seit dem Zeitpunkt der Einführung der bilateralen Verträge im Vergleich zu den vorhergehenden Jahren signifikant erhöht. Drittens zeigt die Analyse, dass die konjunkturelle Abhängigkeit vom Euroraum während der letzten Jahre leicht abgenommen hat. Andere Märkte – beispielsweise in Nordamerika oder Fernost – haben an Bedeutung gewonnen. Dennoch bleibt die Abhängigkeit der Schweiz von Europa gross. Um auf die eingangs gestellten Fragen zurückzukommen: Dank der bilateralen Verträge erhöhte sich das Pro-Kopf-Einkommen der Schweiz in den letzten Jahren trotz der widrigen Umstände. Oder anders ausgedrückt: Die inländische Bevölkerung wäre ohne die bilateralen Verträge signifikant weniger reich.“

Abberger/Abrahamsen/Bolli/Dibiasi/Egger/Frick/Graff/Hälg/Iselin/Sarferaz/Schläpfer/Siegenthaler/Simmons-Süer/Sturm/Tarlea, KOF Konjunkturforschungsstelle der ETH Zürich, Der bilaterale Weg – eine ökonomische Bestandsaufnahme, KOF Studien Nr. 58, Zürich 2015, S. 27.

„Die Schweizer Wirtschaft hat sich in den letzten zehn Jahren im internationalen Vergleich ausseror-dentlich erfreulich entwickelt. Ob und inwieweit dies mit der Einführung der Personenfreizügigkeit zusammenhängt, kann allein anhand der BIP-Entwicklung empirisch nicht eindeutig nachgewiesen werden. Allerdings kann letzteres empirisch auch nicht ausgeschlossen werden.

Einerseits ist es, bei der Vielfalt möglicher Bestimmungsgründe des Potenzialwachstumspfades, der Messunschärfe bei der Quantifizierung des BIP und der Schwierigkeit, den Output-Trend vom Zyklus zu isolieren, nicht unwahrscheinlich, dass mit den hier verwendeten Methoden auch in der Zukunft kein eindeutiger empirischer Beleg geliefert werden kann. Andererseits ist aber kaum davon auszuge-hen, dass die Personenfreizügigkeit die Potenzialwachstumsrate des Schweizer BIP vermindert haben sollte. So lag nach OECD-Daten zum Schweizer Potenzial-BIP die durchschnittliche jährliche Wachs-tumsrate im Zeitraum 2003–2013 circa einen halben Prozentpunkt höher als im Zeitraum 1991–2001, wobei der spätere Zeitpunkt die schrittweise Einführung der Personenfreizügigkeit beinhaltet. Weiter kommt eine Simulation anhand der offiziellen Schweizer Wachstumskomponentenzerlegung, unter der Annahme, dass die Personenfreizügigkeit keinen Effekt auf die totale Faktorproduktivität hatte, zum Ergebnis, dass das Freizügigkeitsabkommen die BIP-Wachstumsrate um bis zu einem viertel Pro-zentpunkt pro Jahr erhöht haben dürfte. Zum Schluss zeigt eine Regressionsanalyse, dass der Effekt noch stärker sein könnte und somit auch ein positiver Effekt der Personenfreizügigkeit auf die totale Faktorproduktivität nicht auszuschliessen ist.


Als abschliessende Einschätzung möchten wir hinzufügen, dass es nicht eines empirischen Nachwei-ses für eine Erhöhung der Schweizer BIP-Potenzialwachstumsrate bedarf, um die Personenfreizügig-keit zu begrüssen. Die Wirtschaftstheorie zeigt, dass Migration und Arbeitsteilung gemäss komparati-ver Vorteile komplementär sind.

BAK Basel Economics AG, Die mittel- und langfristigen Auswirkungen eines Wegfalls der Bilateralen I auf die Schweizerische Volkswirtschaft, Basel 2015, S. 21f.

„Um das gesamtwirtschaftliche Schadenspotenzial eines Wegfalls der Bilateralen I zu bestimmen, wurden zwei Szenarien berechnet. Das Referenzszenario beschreibt die zukünftige Entwicklung der Schweiz unter Beibehaltung der Bilateralen I. Dem wird im Alternativszenario eine zukünftige Entwicklung der Schweiz ohne Bilaterale I ab 2018 gegenüber gestellt. Die Modellsimulationen im Alternativszenario wurden sowohl Partiell für die einzelnen Abkommen als auch im Zusammenspiel aller Abkommen durchgeführt. Im Gesamtergebnis liegt die gesamtwirtschaftliche Leistung der Schweiz im Jahr 2035 um 7.1 Prozent tiefer, als in einer Situation mit Beibehaltung der Bilateralen I.“

Ecoplan, Volkswirtschaftliche Auswirkungen eines Wegfalls der Bilateralen I, Analyse mit einem Mehrländergleichgewichtsmodell, Bern 2015, S. II.

„Die Modellrechnungen der Auswirkungen des Wegfalls der Bilateralen I zeigen:

• einen relativ grossen Rückgang der wirtschaftlichen Aktivität in der Schweiz: -4.9 BIP% bis
ins Jahr 2035. Diese BIP-Verluste liegen deutlich über den Auswirkungen anderer grosser
politischen Weichenstellungen. So wäre bspw. bei der Umsetzung eines Klima- und Energielenkungssystems im Rahmen der Energiestrategie mit deutlich geringeren BIP-Verlusten zu rechnen.

relativ grosse Einkommensverluste in der Schweiz im Umfang von rund 1‘900 CHF/CHKopf im Jahr 2035.

eine Schwächung der Schweizer Wirtschaft und Produktions-Standortverlagerungen – vor
allem im Vergleich zur EU. Die EU profitiert sogar vom wirtschaftlichen Bedeutungsverlust
der Schweiz. Die Bilateralen I liegen somit – aus einer rein wirtschaftlichen Betrachtungsweise – stärker im Interesse der Schweiz als in jenem der EU.

Der Wegfall der Bilateralen I führt zu einer erheblichen Schwächung der Schweizer Wirtschaft
und zu spürbaren Einkommenseinbussen bei der heimischen Bevölkerung. Es besteht ein Risiko, dass die Einbussen noch höher sind, als in dieser Studie ausgewiesen“

Staatssekretariat für Wirtschaft SECO, Bericht – Gesamtwirtschaftliche Auswirkungen eines Wegfalls der Bilateralen I, 2015, S. 33.

„Die in diesem Bericht vorgestellten Studien zeigen: Ein Wegfall der Bilateralen I ist mit deutlich negativen Auswirkungen auf die zukünftige Wirtschaftsentwicklung der Schweiz verbunden.

Kumuliert über den Studienhorizont bis 2035 würde das Bruttoinlandsprodukt 460 bis 630 Mrd. CHF tiefer ausfallen. Damit kostet der Wegfall der Bilateralen I in weniger als 20 Jahren ungefähr ein heutiges «Jahreseinkommen» der Schweizer Volkswirtschaft.

Bei einem Wegfall der Bilateralen I würde im Jahr 2035 das BIP rund 4.9% (Ecoplan, ohne Forschungsabkommen) bis 7.1% (BAKBASEL) tiefer liegen als im Basisszenario. Der negative Effekt auf das BIP pro Kopf würde im Jahr 2035 etwa 1.5% (Ecoplan), bzw. 3.9% (BAKBASEL) betragen.

Insgesamt reihen sich die Resultate in ihrer Grössenordnung in die bestehende Literatur zu den einzelnen Abkommen der Bilateralen I ein. Es zeigt sich insgesamt, dass die Bilateralen I als massgeschneiderter rechtlicher Rahmen für den Schweizer Zugang zum EU-Binnenmarkt von volkswirtschaftlicher Bedeutung sind.“

economieuisse, Wie die Schweiz von den Bilateralen profitiert, 2014, S. 5.

„Die Fakten machen deutlich, dass der Schweizer Wirtschaftsstandort in vielerlei Hinsicht stark von den Bilateralen I profitiert. Dabei gibt es branchenspezifische positive Effekte, aber auch solche, die sich auf alle Wirtschaftsteile erstrecken.“

Bühler/Helm/Lechner, Trade Liberalization and Growth: Plant-Level Evidence from Switzerland, Universität St. Gallen, St. Gallen 2011, S. 21f.

„This paper has proposed a policy evaluation approach towards estimating the effect of trade liberalization on growth. This approach is designed to avoid the well-known econometric difficulties plaguing previous work in this field. In particular, it allows us to identify the direction of causation from trade liberalization on growth.
Viewing a bundle of bilateral agreements between Switzerland and the EU (Bilateral Agreements I) enacted in June 2002 as a plausibly exogenous instance of trade liberalization, we have used data on the universe of Swiss plants from 1995 to 2008 to estimate the effect of trade liberalization on plant growth. Employing both a semi-parametric DiD and a matching approach, we have found the following results:
First, there is evidence for a negative anticipation effect. According to our estimates, the average growth of the affected plants was reduced by up to 2 percent in anticipation of the trade liberalization. This finding is consistent with the notion that firms improve their productivity in anticipation of a market opening.
Second, the negative anticipation effect was turned into a positive effect after liberalization, increasing the average growth of the affected plants by about 1-2 percent during the first six years after enactment. That is, the trade liberalization caused a significantand persistent extra growth of the affected plants.
Our results support the view that trade liberalization has a relevant effect on economic growth. It should be clear, though, that the effect is likely to vary across differentinstances of trade liberalization and industries affected. It would therefore be interestingto compare our results to similar policy evaluation studies of trade liberalization. Acollection of such studies is likely to provide persuasive empirical evidence on the impactof trade liberalization on economic growth.“

Egger/Larch, An assessment of the Europe agreements’ effects on bilateral trade, GDP, and welfare, European Economic Review, Volume 55, Issue 2, Pages 263-279, 2011, S. 277.

„The elimination of political trade frictions between the member countries of the European Unio nand some of the Central and Eastern European countries triggered net trade creation effects on the involved economies. The latter shows up in cumulative GDP effect estimates on the CEEC in response to the agreements of about 7%, and ones of about 0.2% in the EU15 members under reasonable assumptions about the elasticity of substitution across produced varieties.“

Brunetti/Bucher, Die Bilateralen I aus wirtschaftlicher Sicht, Die Volkswirtschaft 11-2008, S. 6.

„Deshalb kann man davon ausgehen, dass bei Fortbestehen des bilateralen Weges in einigen Jahren die selben Analysen erneut durchgeführt werden. Auch dann wird die exakte Messung der Wirkungen eine schwierige Aufgabe bleiben, da unabhängig von der vertraglichen Öffnung viele weitere Faktoren auf die wirtschaftliche Entwicklung in den von den Abkommen abgedeckten Sektoren einwirken. Unbestritten bleibt aber die erwartete Richtung der wirtschaftlichen Effekte: Die Wirkung des Abbaus von Grenzen und des Austauschs von Wissen ist positiv und kraftvoll. Mit den bilateralen Abkommen werden Rahmenbedingungen geschaffen, welche den Standort Schweiz stärken und für die Schweizer Firmen in wichtigen Bereichen bessere Wettbewerbsbedingungen schaffen. Diese stabilen und bewährten Rahmenbedingungen sind heute in Zeiten einer unsicheren Wirtschaftsentwicklung wichtiger denn je.“

Tötung von General Qasem Soleimani; NATO-Bündnisfall; Kulturgutschutz

Der iranische General Ghassem Qasem Soleimani war Anfang Januar von einer US-Drohne im Irak getötet worden. – dpa-infocom GmbH

Am 3. Januar wurde der iranische General Qasem Soleimani durch eine Drohne in der Nähe des Flughafens in Bagdad getötet. Die iranische Antwort auf die Tötung war der Raketenbeschuss von zwei irakischen Luftwaffenstützpunkten, auf denen auch amerikanische Soldaten stationiert waren. Seitdem scheint die Lage zu eskalieren und die Ereignisse überschlagen sich. Es wird mit Vergeltung gedroht und die Angst vor einem Kriegsausbruch und deren Folgen beschäftigt die ganze Welt. In den Medien ist sogar die Rede von einem möglichen Ausbruch eines Weltkrieges.

Er droht sogar damit, Kulturgüter, die dem Iran wichtig sind, zu zerstören.

Der Iran bezeichnete die Tötung in einem Schreiben an den UN-Sicherheitsrat als „Staatsterrorismus“ und „krimineller Akt“.

„Conducted “at the direction of the President” of the United States, the assassination of Major General Qasem Soleimani, by any measure, is an obvious example of State terrorism and, as a criminal act, constitutes a gross violation of the fundamental principles of international law, including, in particular, those stipulated in the Charter of the United Nations, and thus entails the international responsibility of the United States.“

Sie fordern den Sicherheitsrat auf, ihre Verpflichtungen wahrzunehmen und diese kriminelle Handlung als völkerrechtswidrig zu verurteilen.

„At the same time, it is incumbent upon the Security Council to uphold its responsibilities and condemn this unlawful criminal act, taking into account the dire implications of such military adventurism and dangerous provocations by the United States on international peace and security.“

Im Vorliegenden wird auf die Frage eingegangen, ob eine völkerrechtskonforme Tötung vorliegt, ob der Gegenschlag eventuell ein NATO-Bündnisfall auslösen könnte und wie die Zerstörung von Kulturgütern rechtlich zu qualifizieren ist.

Das Gewalt- und Interventionsverbot

Entstehungsgeschichte

Das Kriegsführungsrecht musste viele verschiedene Phasen durchlaufen. Bis zum Anfang des 20. Jahrhunderts wurde von einem freien Kriegsführungsrecht ausgegangen („liberium ius ad bellum„). Erst Anfang des 20. Jahrhunderts entstanden Friedensbewegungen und wurden Bemühungen unternommen, Kriege einzudämmen. Diese Bemühungen mündeten in der Annahme der Konventionen zur friedlichen Streitbeilegung (1899-1907) in den Haager Friedenskonferenzen. Ein Gewaltverbot war jedoch noch nicht vorgesehen.

Der entscheidende Fortschritt kam 1928 mit dem Vertrag über die Ächtung des Krieges („Briand-Kellog-Pakt„). Dem Pakt traten 1939 63 Staaten bei (fast die gesamte Staatengemeinschaft). So heisst es in Art. I des Paktes:

Art. I Die Hohen Vertragschließenden Parteien erklären feierlich im Namen ihrer Völker, daß sie den Krieg als Mittel für die Lösung internationaler Streitfälle verurteilen und auf ihn als Werkzeug nationaler Politik in ihren gegenseitigen Beziehungen verzich-ten.

Ein umfassendes Gewaltverbot entstand erst mit der Gründung der UN im Jahre 1945 und wird in Art. 2 Ziff. 4 der UN-Charta festgelegt. Nebst dem Gewaltverbot regelt die UN-Charta auch die Selbstverteidigung (Art. 51 UN-Charta) und das kollektive Sanktionsmechanismus (7. Kapitel der UN-Charta).

Art. 2
Die Organisation und ihre Mitglieder handeln im Verfolg der in Artikel 1 dargelegten Ziele nach folgenden Grundsätzen:

[…]
4. Alle Mitglieder unterlassen in ihren internationalen Beziehungen jede gegen die territoriale Unversehrtheit oder die politische Unabhängigkeit eines Staates gerichtete oder sonst mit den Zielen der Vereinten Nationen unvereinbare Androhung oder Anwendung von Gewalt.
[…]

Die Tötung des iranischen Generals könnte demnach eine Verletzung des Gewaltverbots i.S.v Art. 2 Ziff. 4 UN-Charta darstellen, sofern es nicht durch das Selbstverteidigungsrecht legitimiert werden kann.

Selbstverteidigungsrecht nach Art. 51 UN-Charta

Damit das Selbstverteidigungsrecht angerufen werden kann, muss eine Selbstverteidigungslage – ein gegenwärtiger Angriff bzw. Bedrohung durch einen unmittelbar bevorstehenden Angriff – vorliegen.

Ein Angriff setzt zunächst die Anwendung von Waffengewalt voraus. Verletzungen von wirtschaftlichen oder politischen Rechten lösen das Selbstverteidigungsrecht nicht aus. Auch muss eine gewisse Intensitätsschwelle erreicht werden. Sogenannte „low intensity conflicts“ stellen noch keinen gegenwärtigen Angriff dar. Auch staatliche Passivität gegenüber terroristischen Gruppierungen, die in anderen Staaten Waffengewalt ausüben, reichen nicht aus (Beispielsweise der türkische Angriff auf syrisches Gebiet mit der Begründung, Terroristen auschalten zu wollen, ist ohne Zustimmung von Syrien grundsätzlich völkerrechtswidrig).

Als Beispiel sei das Flugzeugattentat auf das World Trade Center aufgeführt, bei der das Flugzeug als Waffe benutzt wurde.

Resolution des Sicherheitsrates 1368 vom 12. September, 2001
[…]
1. verurteilt unmissverständlich mit allem Nachdruck die grauenhaften Terroranschläge, die am 11. September 2001 in New York, Washington und Pennsylvania stattgefunden haben, und betrachtet diese Handlungen, wie alle internationalen terroristischen Handlungen, als Bedrohung des Weltfriedens und der internationalen Sicherheit;
[…]

Des Weiteren muss die Waffengewalt gegenwärtig oder unmittelbar bevorstehend sein. Das Selbstverteidigungsrecht setzt also einen gegenwärtigen bewaffneten Angriff voraus. Präventive Selbstverteidigung ist nur dann erlaubt, wenn der Angriff unmittelbar bevorsteht. So die „Caroline-Formel“ von 1837:

cases in which the necessity of that self-defence is instant, overwhelming, and leaving no choice of means, and no moment for deliberation.

Als Beispiel sei die präventive Zerstörung eines irakischen Atomreaktors durch Israel aufgeführt, die als völkerrechtswidrig eingestuft wurde.

Resolution des Sicherheitsrates 487 vom 19 Juni, 1981
Considering that, under the terms of Article 2, paragraph 4, of the Charter of the United Nations: „All Members shall refrain in their international relations from the threat or use of force against the territorial integrity or political independence of any State, or in any other manner inconsistent with the purposes of the United Nations“,
Strongly condemns the military attack by Israel in clear violation of the Charter of the United Nations and the norms of international conduct;

Die „preemptive-strikes“ Sicherheitsdoktrin der USA („Bush-Doktrin„) möchte die Selbstverteidigung in solchen Fällen vorverlagern, in denen neuartige und diffuse Gefahren wie Terrorismus und Massenvernichtungswaffen ein Warten auf einen erkennbaren und unmittelbar bevorstehenden Angriff eine wirksame Verteidigung verunmöglichen würden.

Diese Doktrin konnte sich jedoch aus verschiedenen Gründen nicht durchsetzen. Die Missbrauchsgefahr ist offensichtlich: Wer entscheidet, ob eine neuartige Gefahr besteht und ob ein Zuwarten tatsächlich unmöglich ist? Befindet sich die USA seit 19 Jahren in einer Bedrohungslage aufgrund Terrorismus? Es ist die Aufgabe der UN gemäss Art. 39 UN-Charta, solche Friedensgefährdungen festzustellen und präventiv im Wege der Kollektiventscheidung militärische Massnahmen anzuordnen. Der Besitz von Atomwaffen genügt beispielsweise nicht als bewaffneter Angriff, der die Selbstverteidigung auslösen könnte.

Befindet sich die USA in einer Selbstverteidigungslage?

Mit dem Schreiben an den UN-Sicherheitsrat vom 8. Januar 2020 hat die USA versucht, die Bedrohungslage darzulegen. Das Schreiben befasst sich durchgehend mit zurückliegenden und abgeschlossenen Ereignissen, eine akute Bedrohungslage kann nicht substanziiert dargelegt werden (Hinweis auf die Vorfälle an der Strasse von Hormuz; Kriminelle Vergangenheit; Unterstützung des Assad-Regimes als Kriegsverbrecher).

Inwiefern vom General eine konkrete und akute Gefahr für die Sicherheit der USA ausging, dass dessen Tötung gemäss den „Caroline„-Kriterien das einzige Mittel gewesen wäre, ist reine Spekulation. Die USA sind ihren Untersuchungs- und Aufklärungspflichten nicht nachgekommen, weshalb eine Beurteilung gar nicht möglich ist. Bis zum heutigen Zeitpunkt konnte die USA der Öffentlichkeit keine Hinweise liefern, worin der Sicherheitsgewinn der USA bestehen würde.

Ergebnis

Das Selbstverteidigungsrecht gemäss der UN-Charta setzt eine Selbstverteidigungslage voraus. Demnach muss ein bewaffneter Angriff oder eine Bedrohung durch einen unmittelbar bevorstehenden Angriff vorliegen. Die Idee der Sicherheitsdoktrin der USA, wodurch vorbeugende Angriffe möglich wären, wird von der internationaler Gemeinschaft nicht geteilt. Die USA konnten keine Bedrohungslage substanziiert vorbringen und der Sicherheitsgewinn der USA durch die Tötung ist äusserst fragwürdig. Der Angriff wird als völkerrechtswidrig zu qualifizieren sein.

Bündnisfall der NATO

Verschiedentlich wird in den Medien vom Bündnisfall gesprochen (Vgl. Welt: Müsste Deutschland im Angriffsfall den USA zur Seite stehen?). Fraglich ist, ob der Raketenbeschuss am 8. Januar auf zwei irakischen Luftwaffenstützpunkten, auf denen auch amerikanische Soldaten stationiert waren, einen solchen Bündnisfall auslösen könnte.

Der Bündnisfall auf Grundlage des NATO-Vertrages wird in Art. 5 geregelt:

Artikel 5
Die Parteien vereinbaren, dass ein bewaffneter Angriff gegen eine oder mehrere von ihnen in Europa oder Nordamerika als ein Angriff gegen sie alle angesehen wird; sie vereinbaren daher, dass im Falle eines solchen bewaffneten Angriffs jede von ihnen […], Beistand leistet, […], einschließlich der Anwendung von Waffengewalt, […]

Demnach wird Beistand geleistet, wenn ein bewaffneter Angriff gegen eine oder mehrere vorliegt. Art. 6 regelt dabei den geographischen Anwendungsbereich:

Artikel 6
Im Sinne des Artikels 5 gilt als bewaffneter Angriff auf eine oder mehrere der Parteien jeder bewaffnete Angriff

● auf das Gebiet eines dieser Staaten in Europa oder Nordamerika, auf die algerischen Departements Frankreichs, auf das Gebiet der Türkei oder auf die der Gebietshoheit einer der Parteien unterliegenden Inseln im nordatlantischen Gebiet nördlich des Wendekreises des Krebses;  

● auf die Streitkräfte, Schiffe oder Flugzeuge einer der Parteien, wenn sie sich in oder über diesen Gebieten oder irgendeinem anderen europäischen Gebiet, in dem eine der Parteien bei Inkrafttreten des Vertrags eine Besatzung unterhält oder wenn sie sich im Mittelmeer oder im nordatlantischen Gebiet nördlich des Wendekreises des Krebses befinden.

Da sich der Stützpunkt jedoch in der Golfregion befindet (Irak), fällt der Angriff im Umkehrschluss nicht in den geographischen Anwendungsbereich des NATO-Vertrages.

Angriff auf Kulturgüter

In seinem Tweet (siehe Anfang) erwähnte Trump, dass er diverse Gebiete des Irans im Visier hätte, darunter auch iranische Kulturgüter. Der Aufschrei auf diesen Tweet war sehr gross: In einem Konflikt stehen Kulturgüter des gegnerischen Staates unter besonderem Schutz.

Das humanitäre Völkerrecht verbietet in Art. 53 der Genfer Konvention (1. Zusatzprotokoll) jegliche „feindselige Handlungen gegen geschichtliche Denkmäler, Kunstwerke oder Kultstätten zu begehen, die zum kulturellen oder geistigen Erbe der Völker gehören„.

Auch würde ein Angriff auf Kulturgüter die Gerichtsbarkeit des Internationalem Strafgerichtshof begründen. Gemäss dem Art. 8 Abs. 2 lit. b ix) des Römer Statut des Internationalen Strafgerichtshofs wird als Kriegsverbrechen geahndet, wer „vorsätzliche Angriffe auf Gebäude, die dem Gottesdienst, der Erziehung, der Kunst, der Wissenschaft oder der Wohltätigkeit gewidmet sind, auf geschichtliche Denkmäler, Krankenhäuser und Sammelplätze für Kranke und Verwundete, sofern es nicht militärische Ziele sind;

Auch haben sowohl der Iran als auch die USA verschiedene Abkommen zum Schutz von Kulturgüter bei bewaffneten Konflikten ratifiziert. (Haager Landkriegsordnung, Haager Abkommen für den Schutz von Kulturgut bei bewaffneten Konflikten)

Er hat seinen Tweet zwar relativiert und erwähnt, dass er das internationale Recht respektieren würde. Ob er aber wirklich sich nicht des Kriegsverbrechens und des Verstosses gegen das humanitäre Völkerrecht schuldig machen wird, bleibt abzuwarten.

Strafrechtliche Verantwortlichkeit von Unternehmen; Vorwurf gegen die Post AG.

BGE 142 IV 333

Der Post wird vorgeworfen, dass sie Barauszahlung in der Höhe von CHF 4’600’000 vornahm, ohne die Herkunft und die Verwendung geprüft zu haben. Sie habe trotz Kenntnis der entsprechenden Risiken nicht alle zumutbaren Handlungen vorgenommen, um eine Geldwäschereihandlung zu verhindern. Das damals gültige Reglement sah bei Bargeldbezügen ab einem Betrag von CHF 100’000 das Ausfüllen eines Formulars sowie weitere zu treffende Abklärungen vor. Mangelnde Einschränkungen und Bedingungen bei Bargeldbezügen in beliebiger Höhe haben dazu geführt, dass ein Mitarbeiter der Compliance-Abteilung die Barauszahlung freigegeben hat.

Anlasstat

Die A. AG hat eine Bewilligung als Finanzintermediär (Banken, Fonds, Versicherungen etc…). Die Organe der A. AG waren B. und C.

Auf das Postkonto der A. AG wurden zwei Banküberweisungen von der Bank D. SA, Luxemburg, in der Höhe von EUR 5’000’000 überwiesen. Grundlage der Überweisung war die arglistige Vortäuschung eines gewinnbringenden Anlagegeschäfts; der Betrag stammte von einem Verbrechen her.

B. (Einziger Verwaltungsrat der A. AG) hob vom Postkonto des Unternehmens den Betrag von CHF 4’600’000 ab und begründete die Abhebung mit dem Kauf eines Edelsteins. Den Beträgt händigte er der C. (Direktorin der A. AG), aus.

Mit dem Geld reiste C. nach Rom und händigte das Geld einer unbekannten Person aus. Das Geld ist seither unauffindbar.

B. und C. wurden wegen dieser Tat des gewerbsmässigen Betruges (Art. 146 Abs. 2 StGB), der mehrfachen qualifizierten Veruntreuung (Art. 138 Abs. 2 StGB) und der mehrfachen Geldwäscherei (Art. 305bis Abs. 1 StGB) verurteilt.

Strafbarkeit von Unternehmen (Art. 102 StGB)

Im Kern geht es darum, Unternehmen zu rechtsgutrespektierendem Verhalten zu bewegen. Der Sinn und Zweck der Bestrafung liegt in der Abschreckung, Resozialisierung, Aufrechterhaltung des Normvertrauens und der Vergeltung von Unternehmen.

Dem schweizerischen Strafrecht liegt das Schuldprinzip zugrunde, sie ist eine unabdingbare Voraussetzung der Strafbarkeit: Die Rechtsregel «nulla peona sine culpa» (=Keine Strafe ohne Schuld) besagt, dass niemand für eine Tat bestraft werden kann, wenn ihn keine Schuld trifft. Die begangene Tat wird dem Täter folglich als individuelle Verfehlung vorgeworfen. Damit wird ein nachvollziehbarer Sanktionsmass ermöglicht, die Strafe wird berechenbar und angemessen begrenzt, den Vergeltungsbedürfnissen der Gesellschaft wird Rechnung getragen und die Verurteilten vor willkürlicher Rache geschützt.

Wie kann einem Unternehmen eine Tat vorgeworfen werden? Ein Unternehmen kann niemanden töten, verletzen oder eine Person mit einer Waffe bedrohen. Hierfür wird das Schuldprinzip umgedeutet und der Vorwurf erfährt einen Wandel von der individuellen Verfehlung hin zur mangelhaften Organisation. Grund dafür ist, dass (eventuell sogar bewusst und böswillig herbeigeführte) Mängel in der Organisation die Ermittlung von strafrechtlichen verantwortlichen Personen erschweren. Anderseits soll verhindert werden, dass Angehörige des Unternehmens bestraft werden, die sich in der unteren Hierarchiestufen befinden und nicht die tatsächlich Verantwortlichen der höheren Führungsebene zur Rechenschaft gezogen werden können, woran das Unternehmen eine (strafrechtlich relevante) Mitschuld trägt.

Zweigfliedriger Aufbau der Unternehmenshaftung

Nach Art. 102 Abs. 1 StGB (Subsidiäre Strafbarkeit) kann das Unternehmen zur Verantwortung gezogen werden (und wird mit einer Busse bis zu CHF 5’000’000 bestraft!), wenn in Ausübung der geschäftlichen Verrichtung im Rahmen des Unternehmenszweckes ein Verbrechen oder Vergehen (Anlasstat) begangen wird die aufgrund von Organisationsmängel keiner Person zugeordnet werden kann. Beispielsweise wenn ein Kurier eines Transportunternehmens mit Bereicherungsabsichten ein Paket öffnet und das Unternehmen nicht in der Lage ist, herauszufinden, welcher seiner Angestellter das Delikt begangen hat. Oder wenn ein Mitarbeiter für einen Einsatz mit dem Firmenfahrzeug unterwegs ist und dabei eine Geschwindigkeitsübertretung begeht und das Unternehmen nicht nachvollziehen kann, wer das Fahrzeug gelenkt hat.

Nach Art. 102 Abs. 2 StGB (originäre Unternehmenshaftung) wird das Unternehmen bestraft, wenn es nicht alle erforderlichen oder zumutbaren organisatorischen Vorkehrungen getroffen hat, um die Begehung eines der folgenden Delikte durch eine dem Unternehmen zuzurechnende Person, zu verhindern:

Art. 260ter Kriminelle Organisation
Art. 260quinquies Finanzierung des Terrorismus
Art. 305bis Geldwäscherei
Art. 322ter Bestechung schweizerischer Amtsträger
Art. 322quinquies Bestechung schweizerischer Amtsträger. / Vorteilsgewährung
Art. 322septies Bestechung fremder Amtsträger
Art. 322octies Bestechung Privater

Am Anfang wurde der Sachverhalt der Anlasstat geschildert, die zu einer Verurteilung der mehrfachen Geldwäscherei geführt hat. Damit jedoch das Unternehmen zur Verantwortung gezogen werden kann, muss eine dem Unternehmen angehörige Person in Ausübung geschäftlicher Verrichtungen das Delikt begangen (oder die Begehung ermöglicht) haben.

Im Gegensatz zur subsidiären Strafbarkeit genügt es als Beweis indes bei der originären Unternehmenshaftung für sich allein noch nicht, dass eine Straftat begangen wurde. Es müssen konkreten Organisationsmassnahmen erforderlich gewesen sein und tatsächlich nicht bestanden haben.

Den Tatbestand der Geldwäscherei erfüllt, wer Handlungen vornimmt, die geeignet sind, die Ermittlung der Herkunft, die Auffindung oder die Einziehung von Vermögenswerten zu vereiteln und weiss oder annehmen muss, dass die Vermögenswerte aus einem Verbrechen herrühren.

In Objektiver Hinsicht erfüllt die Kassiererin und der Compliance-Officer der Post AG den Tatbestand der Geldwäscherei: Sie haben dafür gesorgt, dass Vermögenswerte, die aus einem Verbrechen stammen, ausbezahlt werden, und haben dadurch dazu beigetragen, dass die Papierspur der Vermögenswerte unterbrochen wurde. (Objektiver Tatbestand der Geldwäscherei ist somit erfüllt)

In subjektiver Hinsicht konnte der Nachweis jedoch nicht erbracht werden, dass die Beteiligten wussten oder hätte annehmen müssen, dass die Vermögenswerte aus einem Verbrechen stammen und auch, dass sie vorsätzlich die Einziehung der Vermögenswerte vereiteln wollten. Die Kassiererin hat sich vor der Auszahlung bei der richtigen Stellen rückversichert, ob die Auszahlung vorgenommen werden dürfe: Aus ihrer Sicht unternahm sie alles Nötige, um sicherzustellen, dass keine Vorschriften oder Weisungen verletzt wurden. Es ist implizit anzunehmen, dass die Staatsanwaltschaft nicht von der Strafbarkeit der Mitarbeiter der Compliance-Abteilung ausging, da gegen diese kein Strafverfahren eröffnet wurde.

Zusammenfassung

Der wegweisende Entscheid des Bundesgerichts setzt die Grenzen für das Unternehmensstrafrecht fest. Für die strafrechtliche Verantwortlichkeit des Unternehmens für Geldwäscherei (Art. 102 Abs. 2 i.V.m Art. 305bis StGB) genügt es nicht, dass der objektive Tatbestand vorliegt. Die Anlasstat, die zur Haftung führt, muss sowohl den objektiven als auch den subjektiven Tatbestand erfüllen. Demnach muss bei der Geldwäscherei das Vereiteln der Herkunftsermittlung von Vermögenswerten, die aus einem Verbrechen oder Vergehen stammen, vorliegen, und die Personen müssen auch wissen oder zumindest annehmen, dass die Vermögenswerte aus einem Verbrechen stammen. Wenn der Nachweis nicht gelingt, dass die beschuldigten Personen über die Mittelherkunft wussten, liegt auch keine Strafbarkeit vor.

Fürsorgepflicht des Arbeitgebers; Unfall mit einem Kran

Entscheid (des Bundesgerichts) 4A_611/2018 vom 5. Juni 2019

A. (Arbeitnehmer) war bei der B. AG (Arbeitgeber) seit 2001 in der Abteilung Stahlwerk angestellt. 2003 ereignete sich ein Arbeitsunfall, bei dem der Arbeitnehmer von einem an einem Kran hängenden Schienenstück am Oberkörper und Gesicht getroffen wurde.

Daraufhin erhob der Arbeitnehmer gegen den Arbeitgeber Klage für den durch Erwerbsausfall erlittenen Schaden auf Grundlage der Fürsorgepflichtverletzung des Arbeitgebers. Sowohl die Klage als auch die Berufung wurden abgewiesen (der gesamte kantonale Instanzenzug). Das Bundesgericht musste beurteilen, ob eine Fürsorgepflichtverletzung vorliegt. Der Arbeitgeber ist verpflichtet, die erforderlichen und geeigneten Massnahmen zum Schutz vor Berufsunfällen zu treffen und alle Schutzvorschriften des Arbeits- und des Unfallversicherungsgesetzes einzuhalten.

Fürsorgepflicht des Arbeitgebers

Die berechtigten Interessen des Arbeitnehmers zu schützen gehören zu den Pflichten jedes Arbeitgebers, insbesondere durch die Gewährung von Fürsorge und Schutz. Der wichtigste Gehalt der Fürsorgepflicht wird anhand von diversen Vorschriften konkretisiert die einer strengen Bewertung standhalten müssen. In der Schweiz wird dem Arbeitnehmerschutz ein hoher Stellenwert beigemessen.

Beispielhafte Aufzählung:

  • Schutz der Persönlichkeit des Arbeitnehmers (OR 328-328a)
  • Schutz der Daten des Arbeitnehmers (OR 328b und DSG 1ff.
  • Geschlechtergleichstellung (GlG 1ff.)
  • Gewährung von Freizeit, Ferien und Urlaub (OR 329ff.)
  • Schutz des Vermögens des Arbeitnehmers (OR 327, 327a-c, 330)
  • Pflicht zur Ausstellung eines Arbeitszeugnisses (OR 330a OR)
  • Pflicht zur Informationen über das Arbeitsverhältnis (OR 330b)
  • […]

Für den hier zu behandelnden Fall von Interesse ist die Pflicht zum allgemeinen Persönlichkeitsschutz nach Art. 328 OR, die Pflichten bezüglich des arbeitsrechtlichen Gesundheitsschutz nach Art. 6 ArbG und die Pflichten für die Verhütung von Berufsunfällen und Berufskrankheiten nach Art. 82 UVG.

Obligationenrecht
Art. 328 C. Pflichten des Arbeitgebers / VII. Schutz der Persönlichkeit des Arbeitnehmers / 1. im Allgemeinen
[ … ]


2 Er hat zum Schutz von Leben, Gesundheit und persönlicher Integrität der Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer die Massnahmen zu treffen, die nach der Erfahrung notwendig, nach dem Stand der Technik anwendbar und den Verhältnissen des Betriebes oder Haushaltes angemessen sind, soweit es mit Rücksicht auf das einzelne Arbeitsverhältnis und die Natur der Arbeitsleistung ihm billigerweise zugemutet werden kann.

Arbeitsrecht
Art. 6 Pflichten der Arbeitgeber und Arbeitnehmer
[…]


2 Der Arbeitgeber hat insbesondere die betrieblichen Einrichtungen und den Arbeitsablauf so zu gestalten, dass Gesundheitsgefährdungen und Überbeanspruchungen der Arbeitnehmer nach Möglichkeit vermieden werden.


2bis […]


3 Für den Gesundheitsschutz hat der Arbeitgeber die Arbeitnehmer zur Mitwirkung heranzuziehen. Diese sind verpflichtet, den Arbeitgeber in der Durchführung der Vorschriften über den Gesundheitsschutz zu unterstützen.


4 […]

Unfallversicherungsgesetz
Art. 82 Allgemeines

[…]

3 Die Arbeitnehmer sind verpflichtet, den Arbeitgeber in der Durchführung der Vorschriften über die Verhütung von Berufsunfällen und Berufskrankheiten zu unterstützen. Sie müssen insbesondere persönliche Schutzausrüstungen benützen, die Sicherheitseinrichtungen richtig gebrauchen und dürfen diese ohne Erlaubnis des Arbeitgebers weder entfernen noch ändern.

Der Arbeitgeber muss zum Schutz von Leben, Gesundheit und der persönlichen Integrität die Massnahmen treffen die notwendig, angemessen und mit Rücksicht auf das einzelne Arbeitsverhältnis und die Natur der Arbeitsleistung zumutbar ist (Art. 328 Abs. 2 OR). Die betriebliche Einrichtungen und der Arbeitsablauf ist so zu gestalten, dass Gesundheitsgefährdungen und Überbeanspruchung vermieden werden (Art. 6 Abs. 2 ArbG). Die Arbeitnehmer sind bei der Verhütung von Berufsunfällen zur Mitwirkung heranzuziehen (Art. 82 Abs. 2 UVG) und sind verpflichtet, den Arbeitgeber bei der Durchführung von Vorschriften zu unterstützen, insbesondere durch die Benutzung der Schutzausrüstung und dem korrekten Gebrauch der Sicherheitseinrichtungen (Art. 82 Abs. 3 UVG).

Gemäss Rechtsprechung muss der Arbeitgeber den Arbeitnehmer über ungewöhnliche Gefährdung, die dem Arbeitnehmer nicht bekannt sind und sich aus der Natur der Arbeit ergeben sowie über Massnahmen, die der Risikovermeidung dienen, informieren. Es ist auch die Pflicht des Arbeitgebers, sicherzustellen, dass die Massnahmen auch gewissenhaft ausgeführt und angewendet werden.

Für die Verhütung von Unfällen muss alles beachten werden, was bei normalem Lauf der Dinge und selbst bei Unaufmerksamkeit oder Unachtsamkeit geschehen könnte. An den Arbeitgeber werden hohe Anforderungen gestellt. Die Fürsorgepflicht umfasst demnach die Verhütung von Unfällen, die nicht auf das unvorhersehbare Verhalten oder schweren Selbstverschulden des Arbeitnehmers zurückzuführen sind (BGE 112 II 138, E. 3b).

Unfallhergang

In der Stahlwerk-Abteilung werden mit einer Stranggussanlage Stahlteile gegossen. Der flüssige Stahl kommt in die Pfanne, gelangt durch eine Öffnung in den Verteilerbecken der einen gleichmässigen Guss in die Kühlanlage erlaubt, wodurch der Stahlguss erstarrt und über die Rollen weitertransportiert wird.  Am Unfalltag ist der flüssige Stahl an der Anlage übergelaufen und musste – nach der Erstarrung – mit einem Kran entfernt werden. Wegen dem Überlaufen wurde ein auf dem Boden liegendes Schienenstück des Verteilerwagens aus der Halterung gerissen. Das Schienenstück wurde sodann mit einer Kette am Kran festgemacht, um es wieder an seinen Platz zurückzubringen. Das Stück ist nach dem Aufheben unkontrolliert gefallen und verklemmte sich. Als sich das Stück plötzlich ruckartig löste, hat es den Arbeitnehmer am Kopf getroffen.

Das Bundesgericht hält zunächst fest, dass es sich nicht um einen komplexen Ablaufen handelt. Auch sind die Mitarbeiter im Umgang mit den Kranen bestens geschult und auch seien die SUVA-Richtlinien bekannt. Der Unfall ereignete sich nur aufgrund der Tatsache, dass der Arbeitnehmer sich im Gefahrenbereich – unter der angehobenen Last des Kranes – befand. Der Arbeitnehmer ist im betreffenden Beruf voll ausgebildet und ist auch erfahren. Dem Arbeitgeber kann fehlende Instruktion und Kontrolle nicht vorgeworfen werden, zumal der Arbeitnehmer aus seiner bisherigen Berufserfahrung wissen musste, dass er sich nicht im Gefahrenbereich aufhalten durfte.

Beim Anhaben der Schiene befand sich der Arbeitnehmer aus grobfahrlässigen Gründen im Gefahrenbereich. Er verliess den Gefahrenbereich zunächst, näherte sich der Schiene aber wieder, nach dem dieser unkontrolliert runtergefallen und sich verklemmte. Erst dann löste sich das Schienenstück und traf den Arbeitnehmer am Kopf. Beide Handlungen des Arbeitnehmers können dem Arbeitgeber nicht angelastet werden, es liegt ein Unfall wegen schwerem, grobfahrlässigem Selbstverschulden vor und die Klage wird abgewiesen.

Initiative «Ja zum Schutz vor Hass»

Am 9. Februar wird über die Erweiterung der Anti-Rassismusstrafnorm abgestimmt. Vor Hass, Hetze und Diskriminierung sollen nicht nur Gruppen einer Rasse, Ethnie oder Religion, sondern auch Gruppen mit der gleichen sexuellen Orientierung geschützt werden. Anhand von zwei ausgewählte Fällen habe ich mir die Strafnorm näher angeschaut.

  • Fall 1: «Genozid-Verleumdung» durch Doğu Perinçek¹
  • Fall 2: «Albaner schlitzen Schweizer Auf» durch die SVP²

Zuletzt wird die Erweiterung der Strafnorm näher betrachtet und die Gründe für oder gegen die Initiative aufgezeigt.

Die Rassismusstrafnorm

Der Schutz der Rassendiskriminierung wird in Art. 261bis StGB geregelt. Durch die Strafnorm soll die Menschenwürde geschützt werden und dient mittelbar dem öffentlichen Frieden. Die Menschenwürde wird in Art. 7 BV geschützt und muss für das Verständnis der Strafnorm genauer betrachtet werden:

Art. 7 BV Menschenwürde
¹ Die Würde des Menschen ist zu achten und zu schützen.

Was genau ist die Menschenwürde und was genau wird geschützt? Das Gericht hat sich zu dieser Frage mehrfach geäussert und festgehalten, dass der Gehalt und die Tragweite der Norm offen sei, da es letztlich um das nicht fassbare Eigentliche des Menschen handelt. Zentrales Anliegen ist die «Anerkennung des Einzelnen in seiner eigenen Werthaftigkeit und individuellen Einzig- und allfälligen Andersartigkeit»³. Jedes staatliche Handeln muss an diesem fundamentalen — für die gesamte Rechtsordnung gültigem — Prinzip bemessen werden. Der Umgang mit einer offenen Norm stellt ein schwieriges Unterfangen dar: Die Ermittlung von Gehalt und Tragweite wird nicht durch eine Definition bewerkstelligt sondern durch ein von der konkreten Problemstellung ausgehendes Herantasten mit einer negativ formulierten Frage: Was ist mit der Menschenwürde nicht vereinbar?⁴

Art. 261bis StGB Rassendiskriminierung
Wer öffentlich gegen eine Person oder eine Gruppe von Personen wegen ihrer Rasse, Ethnie oder Religion zu Hass oder Diskriminierung aufruft, (öffentlicher Aufruf zu Hass/Diskriminierung)

wer öffentlich Ideologien verbreitet, die auf die systematische Herabsetzung oder Verleumdung der Angehörigen einer Rasse, Ethnie oder Religion gerichtet sind, (Öffentliche Verbreitung von Ideologien)

wer mit dem gleichen Ziel Propagandaaktionen organisiert, fördert oder daran teilnimmt, (Propaganda zu den vorherigen Absätze)

wer öffentlich durch Wort, Schrift, Bild, Gebärden, Tätlichkeiten oder in anderer Weise eine Person oder eine Gruppe von Personen wegen ihrer Rasse, Ethnie oder Religion in einer gegen die Menschenwürde verstossenden Weise herabsetzt oder diskriminiert oder aus einem dieser Gründe Völkermord oder andere Verbrechen gegen die Menschlichkeit leugnet, gröblich verharmlost oder zu rechtfertigen sucht, (direkte Diskriminierung/ Leugnung des Völkermords)

wer eine von ihm angebotene Leistung, die für die Allgemeinheit bestimmt ist, einer Person oder einer Gruppe von Personen wegen ihrer Rasse, Ethnie oder Religion verweigert, (Leistungsverweigerung)

wird mit Freiheitsstrafe bis zu drei Jahren oder Geldstrafe bestraft.

Allen Varianten ist gemein, dass der Einzelne aufgrund seiner Zugehörigkeit zu einer bestimmten Gruppe in seiner Menschenwürde verletzt wird. Dadurch bleibt der Person der Anspruch auf Achtung des Menschseins verwehrt. Wann die verschiedenen Varianten des Tatbestandes erfüllt und eine Rassendiskriminierung vorliegt, wird anhand der Fälle aufgezeigt. (Leugnung des Völkermords in Fall 1 und öffentlicher Aufruf zu Hass in Fall 2)

Fall 1: «Genozid Verleumdung»

Perincek ist ein türkischer Politiker und Parteivorsitzender der «Vatan Partisi» (türkisch für «Vaterlandspartei») und wie der Name schon erraten lässt handelt es sich um eine nationalistische Partei mit einer Anlehnung an rechtspopulistischem Gedankengut. Die Partei hat mit 0.23% Stimmenanteil keine relevante Bedeutung.

Interessant ist hingegen seine Aussage vom 24. Juli 2005 an einer Kundgebung in Lausanne, in derer er den Genozid an den Armeniern als internationale Lüge bezeichnete. Daraufhin wurde er als erste Person wegen Leugnung des Armenier-Genozid verurteilt.

Er stellte sich auf den Standpunkt, dass zwar Deportationen und Massaker stattgefunden haben, rechtfertigte die Handlungen jedoch als kriegsrechtlich zulässige Vergeltungsmassnahmen. (“Wir Osmanen wurden angegriffen”)

Die Aufgabe des Gerichts ist es nicht, Geschichtsforschung zu betreiben und den Wahrheitsgehalt von Aussagen zu überprüfen; es wird auf den wissenschaftlichen Konsens abgestellt. Der Vorwurf der Rassendiskriminierung lag darin, dass die Aussagen von Perincek keinen Beitrag für die wissenschaftliche Debatte geleistet haben. Nationalistische und rassistische Hintergründe waren seine Motive. Dadurch, dass er die Armenier als die eigentlichen Aggressoren bezeichnete, hat er den Armeniern ihrer Identität beraubt und die armenische Geschichte verdreht.

Er wurde innerstaatlich durch das Bundesgericht verurteilt, zog das Urteil jedoch weiter an das Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte. Seine Beschwerde wurde —mit grossem Bedauern — gutgeheissen. Der Entscheid des Gerichtshofes erntete massive Kritik: Er wurde als «unerreichter Tiefpunkt» und als «in verschiedener Hinsicht erschreckend» bezeichnet.⁵

Art. 261bis Abs. 4 StGB
[Absätze 1–3]

wer öffentlich durch Wort, Schrift, Bild, Gebärden, Tätlichkeiten oder in anderer Weise eine Person oder eine Gruppe von Personen wegen ihrer Rasse, Ethnie oder Religion in einer gegen die Menschenwürde verstossenden Weise herabsetzt oder diskriminiert oder aus einem dieser Gründe Völkermord oder andere Verbrechen gegen die Menschlichkeit leugnet, gröblich verharmlost oder zu rechtfertigen sucht,

[…]

In diesem Fall liegt eine öffentliche Kundgabe durch Wort vor (Kundgabe in Opfikon, Köniz und Lausanne). Die Armenier gelten als eine Gruppe von Personen. Die Abgrenzung findet durch die Ethnie statt wenn mehrere Personen Gemeinsamkeiten aufweisen mit Bezug auf ihre Geschichte, Sprache, Tradition und Brauchtum und sich dadurch von anderen Personengruppen unterscheiden. Auch sind die Aussagen von Perincek als Verleugnung («der Völkermord ist eine internationale Lüge») anzusehen womit die Strafbarkeit grundsätzlich gegeben wäre.

Fall 2: «Kosovaren schlitzen Schweizer auf!»

Dass die SVP gerne für ihre politische Agenda die Volksstimmung ausnutzt, ist kein Geheimnis. Die SVP warb am 19. August 2011 auf ihrer Website mit dem Inserat für die Masseinwanderungsinitiative. Sie erschien auch in der Neuen Zürcher Zeitung und im St. Galler Tagblatts.

Art. 261bis Abs. 1 StGB
Wer öffentlich gegen eine Person oder eine Gruppe von Personen wegen ihrer Rasse, Ethnie oder Religion zu Hass oder Diskriminierung aufruft, […]

Zweifelsohne liegt hier Öffentlichkeit vor: Nicht nur hat die SVP das Inserat auf ihrer eigenen Website veröffentlich, auch wurde es in zwei Zeitungen veröffentlicht.

Fraglich ist, ob Kosovaren eine «geschlossene Gruppe» darstellen. Tatsache ist, dass im Kosovo verschiedene Ethnien wie Albaner, Serben, Türken, Goranen und Romas leben. Unter Ethnie wird im strafrechtlichen Sinne ein Segment der Bevölkerung verstanden welches sich selbst als abgegrenzte Gruppe versteht und das vom Rest der Bevölkerung auch als Gruppe verstanden wird. Welchem «Sinn» dem Begriff «Kosovare» zukommt, muss anhand eines Durchschnittsleser beurteilt werden. Ausschlaggebend ist nicht der Wahrheitsgehalt des Inserates, sondern vielmehr seine Wirkung auf die Bevölkerung. Umfassende Kenntnisse von den politischen Vorgängen im ehemaligen Jugoslawien kann nicht erwartet werden weshalb es genügt, wenn Kosovare (in der Schweiz) als eigenständige Gruppe wahrgenommen wird.

Aufruf zu Hass oder Diskriminierung liegt dann vor, wenn ein Klima geschaffen wird, in dem Angriffe auf die Menschenwürde der Gruppe zu erwarten sind. Das Inserat stellt die Kosovaren als Gruppe in ein schlechtes Licht: Es suggeriert, dass alle Kosovaren kriminell und gewalttätig seien. Dadurch wurde versucht, eine feindselige Haltung und ein feindseliges Klima zu erschaffen, weshalb die Fachleute der SVP im Bereich der Kommunikation (come on) zu recht bestraft wurden.

Sinn und Zweck der Initiative

Bei beiden der Fälle wurde die Menschenwürde einer bestimmten Gruppe geschützt. Der Schutzgedanke ist nachvollziehbar: Den Genozid zu leugnen aus rassistischen und/oder nationalistischen Gründen, ihn zu rechtfertigen oder zu verharmlosen ist ekelhaft und menschenverachtend. Genauso verhält es sich mit dem Inserat: Es wird gegen die Kosovaren gehetzt und sie werden degradiert nur mit dem Zweck, Politik zu betreiben. Ein solches Vorgehen von Kommunikationsexperten entbehrt jedweder Logik. Vermutlich wird die SVP jede Gelegenheit ausnutzen auf eine Gruppe zu treten nur damit sie ihre Agenda durchwinken können.

Wie aus der Strafnorm ersichtlich ist erfolgt die Abgrenzung anhand der Kriterien der Rasse, Ethnie oder der Religion. Die Initiative möchte zusätzlich auch Gruppen schützen, die wegen ihrer sexuellen Orientierung Opfer von Hass und Diskriminierung werden. Damit wird der Katalog an geschützten Personengruppen (um 1 Merkmal) erweitert.

Fazit

Die derzeitige Rechtslage kennt keine Möglichkeit, gegen allgemeine, herabwürdigende Aussagen über die sexuelle Orientierung vorzugehen, sie müssen hingenommen werden. Nur wenn die Aussage gegen eine Einzelperson gerichtet ist, kann Schutz durch ein Ehrverletzungsdelikt (Art. 173ff. StGB) gewährleistet werden.

Die evangelische Volkspartei und Rechtskonservative erachten die Erweiterung als unnötig, denn «Niemand kann heute abschätzen, inwieweit wissenschaftlich und weltanschaulich begründete Kritik an sexuellen Orientierungen zu strafrechtlichen Konsequenzen führen würde». Diese Aussage ist schlichtweg falsch und kaschiert meiner Meinung nach die eigentliche Motivationen der Parteien. Der Genozid-Fall hat Lehrbuchartig aufgezeigt, dass eine wissenschaftliche Auseinandersetzung (Es ging um die Frage des Völkermordes!) unter die Meinungsfreiheit fallen würde. Hass hingegen ist keine Meinungsäusserung. Die Meinungsäusserungsfreiheit umfasst nicht das Recht, Hass zu schüren.

Die Initiative geht in die richtige Richtung; es ist jedoch äusserst zweifelhaft ob für die Gleichstellung viel erreicht wird. Die Initiative hat vielmehr symbolischen Charakter. Eine Erweiterung wäre dann zu begrüssen, wenn der Personenkreis noch weiter gefasst werden würde. Eine Selektion ist unsinnig und führt ebenfalls zu einer Diskriminierung (Warum sollen behinderte nicht geschützt werden?).


¹ Urteil (des Bundesgerichts) 6B_398/2007 vom 12. Dezember 2007.

² Urteil (des Bundesgerichts) 6B_610/2016 vom 13. April 2017.

³ BGE 132 I 49, 55 E. 5.1.

Biaggini Giovanni, in: BV Kommentar, Bundesverfassung der Schweizerischen Eidgenossenschaft, 2. Auflage, Zürich 2017, Art. 7 Menschenwürde, N 6.

⁵ Marc Forster, Fall Perinçek: Der Europäische Gerichtshof stellt das Leugnen des Genozids an den Armeniern unter den Schutz der Menschenrechte, forumpoenale 7 [2014], S. 53

Härteres Sexualstrafrecht

Sexuelle Nötigung i.S.v Art. 189 StGB und Vergewaltigung i.S.v Art. 190 StGB

Amnesty International hat eine Kampagne gegen sexuelle Gewalt gestartet und eine Petition beim Eidgenössischen Justiz- und Polizeidepartement lanciert.¹ Damit wurde eine Diskussion über eine Reform des Sexualstrafrechts entfacht.² Das Ziel ist es, das Geschlechtsverkehr, ohne das vorher hierfür die Zustimmung eingeholt wurde, als Vergewaltigung gelten soll.

Assistenzprofessorin Dr. Anna Coninx und Oberassistentin Dr. Nora Scheidegger haben im Juni dieses Jahres ein Schreiben verfasst in der sie aufzeigen, worin die Notwendigkeit einer Neuregelung besteht und welche Alternativen zur Verfügung stehen.³

Derzeitige Gesetzeslage

Die strafbaren Handlungen gegen die sexuelle Freiheit werden in den Art. 187f. des schweizerischen Strafgesetzbuches (StGB) geregelt. Aufgezeigt werden nur diejenigen Artikel über deren Neuregelung diskutiert wird. (sexuelle Nötigung und Vergewaltigung)

Sexuelle Nötigung
Art. 189 ¹ Wer eine Person zur Duldung einer beischlafähnlichen oder einer anderen sexuellen Handlung nötigt, namentlich in dem er sie bedroht, Gewalt anwendet, sie unter psychischen Druck setzt oder zum Widerstand unfähig macht, wird mit Freiheitsstrafe bis zu zehn Jahren oder Geldstrafe bestraft

Eine sexuelle Nötigung wird dann begangen, wenn eine (männliche oder weibliche) Person eine andere Person aufgrund einer Nötigungshandlung zur Duldung einer beischlafsähnlichen Handlung zwingt mit dem Wissen, dass sein Vorhaben dem Willen der Person entgegenstehen könnte.

Vergewaltigung
Art. 190 ¹ Wer eine Person weiblichen Geschlechts zur Duldung des Beischlafs nötigt, namentlich indem er sie bedroht, Gewalt anwendet, sie unter psychischen Druck setzt oder zum Widerstand unfähig macht, wird mit Freiheitsstrafe von einem Jahr bis zu zehn Jahren bestraft.

Man erkennt sofort, dass die Delikte ähnlich aufgebaut sind. Die Hauptunterschiede sind der Kreis der Beteiligten und die Art der Handlung. Bei der sexuellen Nötigung können männliche und weibliche Person sowohl Opfer als auch Täter sein. Vergewaltigt werden kann hingegen nur eine Frau durch einen Mann. Das Eindringen in die Scheide gilt als Vergewaltigung, nicht aber das Eindringen in den Mund oder beim erzwungenen Analverkehr. Der Unrechtsgehalt ist in beiden Fällen ähnlich weshalb auch die Strafen meist ähnlich ausfallen dürften.

Der Täter muss wissen, dass sein Vorhaben nicht geduldet wird und er muss durch die Nötigungshandlung den entgegenstehenden Willen der Person brechen wollen. Die Einwilligung ist dabei irrelevant. Der Täter bleibt demnach straflos, wenn er den Widerstand für nicht ernstgemeint hält.

Voraussetzungen der beiden Tatbestände. Ist einer der Tatbestandsvoraussetzungen nicht erfüllt (z.B. die Nötigungshandlung), so gilt auch das Delikt als nicht verübt.

Probleme an der aktuellen Gesetzeslage

Die im Auftrag von Amnesty International erstellte repräsentative Umfrage von gfs.bern (Institut für Sozialforschung, spezialisiert in Politik- und Kommunikationsforschung) ist erschreckend: 22% der befragten Frauen haben eine ungewollte sexuelle Handlung erlebt. 12% gaben an, schon einmal in ihrem Leben Geschlechtsverkehr gegen den Willen gehabt zu haben wobei 7% durch Festhalten oder Zufügen von Schmerzen gezwungen wurden. Belästigung in Form von unerwünschten Berührungen, Umarmungen oder Küssen haben 59% erlebt.

Auch verlangt das Übereinkommen des Europarats zur Verhütung und Bekämpfung von Gewalt gegen Frauen und häuslicher Gewalt («Istanbul Konvention»), dass jede sexuelle Handlung ohne gegenseitige Einwilligung zu bestrafen ist.

Wie oben aufgezeigt liegt nach geltendem Recht eine sexuelle Handlung nur dann vor, wenn sie durch eine Nötigungshandlung erzwungen wird. Im Umkehrschluss liegt demnach keine Straftat vor, wenn auch keine Nötigungshandlung vorgenommen wird, auch wenn eine Einwilligung fehlen würde (z.B. durch ein ausdrückliches «Nein»). Dadurch wird indirekt vom Opfer verlangt, dass es sich aktiv zur Wehr setzen muss, um eine Handlung des Täters zu erzwingen. damit er den Tatbestand erfüllt. Problematisch ist nur, dass verschiedene Studien aufzeigen, dass Frauen in einen Schockzustand verfallen und sich somit nicht zur Wehr setzen können.

Active resistance is often considered to be the “normal” reaction during rape, but a new study found that most victims may experience a state of involuntary paralysis, called tonic immobility, during rape.⁴

Revisionsvorschläge

Im Schreiben werden mehrere Vorschläge vorgebracht, die den Problemen entgegenwirken soll. Die Bestrafung einer sexuellen Handlung ohne gegenseitige Einwilligung kann mit der Vetolösung oder mittels Zustimmungslösung erfolgen.

Vetolösung

Gemäss der Vetolösung könnte der Tatbestand so umformuliert werden, dass eine Handlungen gegen den Willen des Opfers vorgenommen wird, wenn dieses klar kommuniziert, dass es die sexuelle Handlung nicht will. Dies kann entweder explizit (Durch eine Äusserung) oder aufgrund konkludenten Verhaltens (Erstarren aufgrund eines Schockzustandes) geschehen.

Gemäss dem Schreiben werden dadurch auch die Fälle darunter subsumiert, bei denen eine nichtkonsensuale Penetration unter Ausnutzung des Überraschungseffekts vorgenommen wird. (sog. «Massage-Fälle»)

Zustimmungslösung

Bei der Vetolösung würde der Tatbestand erst dann erfüllt sein, wenn eine Ablehnung der Handlung ignoriert wird: Es wird kommuniziert, dass die Handlung nicht gewollt ist, trotzdem aber weitergemacht wird.

Die Zustimmungslösung geht einen anderen Weg: Den Tatbestand erfüllt, wer ohne Zustimmung des Gegenüber eine solche Handlung vornimmt; mithin im vornherein keine Zustimmung eingeholt hat. Dies kann natürlich auf verschiedene Arten geschehen, entweder explizit oder konkludent. Auch passives Verhalten kann mitberücksichtigt werden.

Fazit

Meines Erachtens ist eine Revision dringend nötig. Nicht nur, dass Männer derzeit grundsätzlich von Gesetzes wegen nicht vergewaltigt werden können, auch verlangt die derzeitige Regelung eine Reaktion des Opfers, die jedoch meistens wegen des Schockzustandes nicht erfolgt (erfolgen kann), womit der Täter nicht den Tatbestand der Vergewaltigung erfüllt.

Ein Praxisbeispiel verdeutlicht die Problematik sehr eindrücklich: Ein Paar geht zusammen aus, sie kehren in die Wohnung zurück und der Mann will Sex. Sie ist nur Imstande, ein «nein» zu äussern. Das Bundesgericht entschied, dass keine Vergewaltigung vorliegt, denn das Opfer hätte fliehen oder sich ja wehren können.

Aufgrund solcher Fälle ist eine Revision notwendig. Gemäss der Veto-Lösung würde eine Vergewaltigung vorliegen, denn das Opfer hat sich durch das “nein” explizit geäussert. Auch gemäss der Zustimmungslösung würde hier eine Vergewaltigung vorliegen weil keine Zustimmung erfolgt ist.

Zu Beachten ist, dass bei der Zustimmungslösung viele Beweisprobleme entstehen können, denn wie erwähnt kann auch passives Verhalten als Zustimmung gewertet werden, womit nicht zwangsweise eine vorgängliche Zustimmung erforderlich ist. Die fehlende Zustimmung müsste klar ausgedrückt werden, nur, was bedeutet “klar”?

Mit Einbezug der Realität (Nicht alles ist vorausgeplant) ist die Veto-Lösung m.M.n vorzuziehen: Strafbar macht sich, wer eine Handlung trotz Ablehnung vornimmt. Bei der Zustimmungslösung werden die derzeitigen Probleme einfach durch andere ersetzt.


¹ https://www.amnesty.ch/de/themen/frauenrechte/sexuelle-gewalt/dok/2019/erst-ja-dann-ahh

² https://www.tagesanzeiger.ch/schweiz/standard/Sex-ohne-Einverstaendnis-soll-haerter-bestraft-werden/story/28455361;

³ https://files.newsnetz.ch/upload//2/4/244263.pdf

https://newsroom.wiley.com/press-release/acta-obstetricia-et-gynecologica-scandinavica/many-rape-victims-experience-involuntary

Suizidbeihilfe in der Schweiz

Die Ärztin Erika Preisig muss sich vor dem Gericht verantworten. Ihr wird vorsätzliche Tötung vorgeworfen, weil sie eine Freitodbegleitung vornahm ohne gutachterlich festzustellen, ob die Person urteilsfähig war.

Es geht um die Frage, wie die Sterbehilfe in der Schweiz geregelt ist im Zusammenhang mit der Urteilsfähigkeit und was die Beweggründe für die Anklage der Staatsanwaltschaft sein könnten.

Der medizinische Eingriff

Die letzte Phase im Leben ist sowohl für den Patienten als auch für die Angehörigen zweifelsohne eine sehr belastende Zeit. Der Umgang mit dem Tod ist und wird immer eine schwierige Herausforderung bleiben.

Perplex und wie zu Eis erstarrt hört man der Hiobsbotschaft der Ärztin zu. Vor allem wenn es sich um eine unheilbare Krankheit handelt dessen unausweichliches Ende bei allen Beteiligten eine klaffende Wunde zu hinterlassen vermag.

Umso wichtiger ist es, in dieser Phase die Wünsche des Patienten zu erfahren, wobei oft schwierige Fragen gestellt werden müssen. Soll die Medikation der Schmerztherapie erhöht werden, um die Schmerzen zu lindern unter Inkaufnahme einer Verkürzung des Lebens? Sollen die lebenserhaltenden Massnahmen eingestellt werden? Kommt eventuell eine Sterbehilfe in Frage?

Es gilt zu klären, wann ein Eingriff grundsätzlich durchgeführt werden darf und, im Falle der (legalen) Sterbehilfe, wann und ob überhaupt die lebenserhaltenden Massnahmen abgebrochen oder der Patient in den Freitod begleitet werden darf.

Das Recht auf Selbstbestimmung

Zunächst ist festzuhalten, dass jeder Eingriff in die physische Integrität einen rechtswidrigen Eingriff darstellt. Sie wird grundrechtlich in Art. 10 BV geschützt (Recht auf Leben und persönliche Freiheit). Daneben gibt es vielzählige Normen die ebenfalls einen Schutz bieten (so z.B. der Schutz der Persönlichkeit im Sinne von Art. 28 ZGB oder durch die Körperverletzungs- und Tötungsdelikte gemäss Art. 111ff StGB). Der Rechtsgrundsatz «volenti non fit iniura» gilt auch für das Medizinrecht und besagt, dass dem Einwilligenden kein Unrecht geschieht: Die Rechtswidrigkeit eines Eingriffs wird durch die Einwilligung geheilt. Jedoch muss folgerichtig der rechtsgenügenden Einwilligung zunächst, unabhängig vom verfolgten Zweck, immer eine umfassende, auf den Patienten abgestimmte Aufklärung vorausgegangen sein. Die Information durch den Arzt stellt das Fundament der freien Willensbildung dar und ist unabdingbar, denn nur so kann der rechtlich geschützte Anspruch auf Selbstbestimmung gewahrt werden.

Urteilsfähigkeit

Damit der Patient in einen Eingriff einwilligen kann, muss er urteilsfähig sein. Die Urteilsfähigkeit wird in Art. 16 ZGB geregelt: Demnach ist jede Person urteilsfähig, dem wegen seines Kindesalters, infolge geistiger Behinderung, psychischer Störung, Rausch oder ähnlichen Zuständen nicht die Fähigkeit mangelt, vernunftgemäss zu handeln. Die Urteilsfähigkeit ist (sowohl in sachlicher als auch in zeitlicher Hinsicht) relativ und muss in jedem Einzelfall gesondert geprüft werden. Das Alter spielt dabei grundsätzlich keine Rolle; vielmehr muss auf die individuellen Fähigkeiten des Patienten abgestellt werden. Fraglich ist, ob diese Person in der Lage ist, alle Auswirkungen der Behandlung (oder Nichtbehandlung) zu erfassen und ob sie es vermag, sich gemäss ihrem eigens gebildeten Willen, auch gegen äusseren Druck, zu verhalten.

Behandlung im Falle der Urteilsunfähigkeit

Die Frage nach dem (mutmasslichen) Willen des Patienten stellt sich immer dann, wenn der Patient seinen Willen nicht (mehr) selbst kundtun kann. Ein solcher Fall der Urteilsunfähigkeit tritt meist ein aufgrund einer fortschreitenden Krankheit oder wegen eines Unfalls, kann aber auch aufgrund anderer Gründe vorliegen (vgl. die beispielhafte Aufzählung von Art. 16 ZGB)

Das Selbstbestimmungsrecht des Patienten hat stets Vorrang. Kann er sich (aufgrund des urteilsfähigen Zustandes) zu der Behandlung äussern, so muss seinem Wunsch entsprochen werden. Ist dies nicht der Fall und liegt auch keine Patientenverfügung vor, müssen die vertretungsberechtigten Personen entscheiden. Die Reihenfolge der vertretungsberechtigten Personen richtet sich nach der Kaskadenordnung von Art. 378 Abs. 1 Ziff. 1–7 ZGB:

  • Ziff. 1: die in der Patientenverfügung bezeichneten Personen;
  • Ziff. 2: der Beistand oder die Beiständin mit einem Vertretungsrecht bei medizinischen Massnahmen;
  • Ziff. 3: der Ehegatte/eingetragener Partner, der mit der urteilsunfähigen Person einen gemeinsamen Haushalt führt oder ihr regelmässig und persönlich Beistand leistet;
  • Ziff. 4: die Person, die mit der urteilsunfähigen Person einen gemeinsamen Haushalt führt und ihr regelmässig Beistand leistet;
  • Ziff. 5: die Nachkommen, wenn sie der urteilsunfähigen Person regelmässig persönlichen Beistand leisten;
  • Ziff. 6: die Eltern, wenn sie der urteilsunfähigen Person regelmässig persönlichen Beistand leisten;
  • Ziff. 7: die Geschwister, wenn sie der urteilsunfähigen Person regelmässig persönlichen Beistand leisten;

Ziel der Reihenfolge ist es, die Entscheidung derjenigen Person zuzusprechen, die die engste Beziehung zur urteilsunfähigen Person aufweist. Sind mehrere Personen vertretungsberechtigt, so kann der Arzt davon ausgehen, dass die Person im Einverständnis mit den anderen handelt (Beispielsweise wenn nur ein Nachkomme sich äussert). Bei Unklarheiten oder wenn keine Einigung erzielt werden kann muss die Erwachsenenschutzbehörde eingeschaltet werden, die über die Vertretungsberechtigung entscheidet.

Die vertretungsberechtigte Person muss ihre Entscheidungen stets gemäss dem mutmasslichen Willen des Patienten und nach seinen Interessen ausrichten. Beim mutmasslichen Willen wird die Frage gestellt, wie der Patient entschieden hätte, wenn er selbst entscheiden könnte. Hilfreiche Indizien könnten vergangene Äusserungen oder Handlungen sein. Deshalb ist es wichtig, dass die Person mit der engsten Beziehung entscheidet, weil diese (vermutungsweise) die Wünsche des Patienten am besten kennt.

Die Interessen des Patienten sind aus objektiver Sicht zu beurteilen. In seinem Interesse liegen medizinisch indizierte Eingriffe, wobei der Begriff (sehr) weit verstanden wird. Es kann nur dann nicht in eine Behandlung eingewilligt werden, wenn diese überhaupt keinen Sinn macht (oder es sich um eine vertretungsfeindliche Handlung handelt).

Sterbehilfe

Von Sterbehilfe kann nur gesprochen werden, wenn der Sterbeprozess entweder bereits begonnen hat oder der Prozess kurz bevorsteht. Es ist stets eine Drittperson beteiligt. Unterschieden wird die direkte, indirekte oder passive Sterbehilfe.

Bei der direkten Sterbehilfe wird der Tod des Patienten durch eine Handlung der Drittperson herbeigeführt. Je nach Motivation könnte es sich dabei um eine vorsätzliche Tötung (StGB 111), den Totschlag (StGB 113) oder die Tötung auf Verlangen (StGB 114) handeln. Die (schuldhafte) direkte Sterbehilfe ist demnach immer rechtswidrig und hat strafrechtliche Konsequenzen, da der Patient nicht in seine eigene Tötung einwilligen kann.

Eine indirekte Sterbehilfe wird geleistet, wenn der Arzt bspw. die Dosierung von Medikamenten erhöht um das Leiden des Patienten zu lindern und dabei in Kauf nimmt, dass sich die Lebenszeit verkürzen könnte. Die indirekte Sterbehilfe ist gesetzlich nicht geregelt, wird aber in der Praxis erlaubt, sofern sich die Dosierung im Rahmen hält und keine bösen Absichten verfolgt werden. (Deswegen ergeben sich zum Teil schwierige Abgrenzungsfragen)

Eine passive Sterbehilfe liegt vor, wenn der Arzt es unterlässt, lebenserhaltende Massnahmen einzuleiten. Der Sterbeprozess nimmt dadurch seinen natürlichen Lauf. Auch hierfür fehlt eine gesetzliche Regelung. Strafbar wäre es, wenn der Arzt in der Lage gewesen wäre, den Sterbeprozess durch eine Behandlung aufzuhalten, es aber unterlässt. Dies ist nicht der Fall bei aussichtslosen Massnahmen oder bei Massnahmen, die die Lebenszeit nur unwesentlich hinauszögern. Nur im ersten Fall liegt eine Strafbare Handlung durch Unterlassen vor.

Streng von der Sterbehilfe abzugrenzen ist die Suizidbeihilfe. Ein Suizid liegt vor, wenn der Patient aus freiem Willen den Tod wählt und hierfür eine Handlung vornimmt. Eine Beihilfe kann auf verschiedene Arten geleistet werden, beispielsweise durch das Anbieten/Vorbereiten eines tödlich wirkenden Medikamentes. Die Beihilfe ist dann strafbar, wenn sie aus selbstsüchtigen Gründen erfolgt (StGB 115). Die gewerbsmässige Beihilfe wird in der Schweiz nicht als strafbar angesehen.

Wichtig bei der (legalen) Suizidbeihilfe ist, dass die Handlung, die zum Tode führt, vom Patienten selbst vorgenommen werden muss. Demnach ist die Freitodbegleitung einer gelähmten Person nicht möglich.

Der Fall Erika Preisig

Wie vorhin aufgeführt bedarf eine Behandlung eine rechtsgenügende Einwilligung. Damit jemand überhaupt einwilligen kann, muss er urteilsfähig sein. Diese bemisst sich nach der intellektuellen und voluntativen Komponente. Liegt eine psychische Störung vor, so muss die Urteilsfähigkeit durch Spezialisten abgeklärt werden. In diesem Fall verweigerten die Spezialisten ihr jedoch die Zusammenarbeit.

Das bedeutet (vermutungsweise) im Ergebnis, dass die Frau Preisig den Tod eines Patienten in mittelbarer Täterschaft herbeigeführt hat, ohne (rechtsgenügend) zu wissen, ob die Patientin überhaupt urteilsfähig war oder nicht.

Diese Tatsache begründet die von der Staatsanwalt verlangte Verurteilung wegen vorsätzlicher Tötung, denn eine urteilsunfähige Person kann nicht in ihren eigenen Tod einwilligen.

Fazit

Die Sterbehilfe wird in der Schweiz sehr liberal geregelt. Es liegt ein gesellschaftlicher Konsens vor: Die Sterbehilfe soll auch weiterhin möglich sein. Als Ausdruck des Selbstbestimmungsrechts ist dies meines Erachtens auch zu begrüssen. Eine urteilsfähige Person, die beispielsweise an einer unheilbaren Krankheit leidet, soll als ultima ratio das Recht auf den assistierten Suizid haben.

Jedoch muss uns bewusst sein, dass wir das freiwillige Sterben erlauben. Eine solch gravierende Entscheidung muss gut überlegt sein weshalb die Vorschriften auch restriktiv auszulegen sind. Dass einer Person, die nicht Imstande ist, die Tragweite seiner Entscheidungen in vollem Umfang zu verstehen, mithin urteilsunfähig ist, die Freitodbegleitung verwehrt bleiben soll, ist aufgrund der Schwere der Entscheidung eine unausweichliche Notwendigkeit. Können wir den Tod eines Menschen, deren Urteilsfähigkeit wir nicht mit Gewissheit bejahen können, verantworten, und wer soll die Urteilsfähigkeit beurteilen, wenn nicht ein Spezialist? Bei einer psychisch kranken Person muss die Frage durch einen Spezialisten beantwortet werden, da andernfalls der Willkür Tür und Tor geöffnet wird.

Es genügt nicht, wenn eine Ärztin die Notwendigkeit eines Psychiaters verneint (vor Gericht stellt sich Frau Preisig auf den Standpunkt, dass es bei einer reaktiven Depression infolge schwerer körperlicher Leiden keinen Psychiater bedürfe), zumal sie nicht über die notwendigen Qualifikationen verfügt. Professor Marc Graf, Direktor der Klinik für Forensik an den Universitären Psychiatrischen Kliniken Basel und Gutachter der Anklage sieht bei schweren Depressionen grundsätzlich die Urteilsfähigkeit getrübt, auch wenn diese von körperlichen Leiden ausgelöst werden.

Ohne eine Vorverurteilung vorzunehmen ist meine Meinung, dass es aus moralischer Sicht nicht zu rechtfertigen ist, einer Person den assistierten Suizid zu gewähren bei dem nicht sicher ist ob er die Sachlage korrekt zu verstehen und alle Faktoren in die Erwägung miteinzubeziehen vermag.

Die Rechtsprechung ist in dieser Hinsicht eindeutig und ein Abweichen davon ist ein bewusstes Abweichen von der gängigen Praxis, die der Ärztin vorzuwerfen ist.

Erstelle eine Website wie diese mit WordPress.com
Jetzt starten